Rütteln am Tabu
In der Türkei ist Geschichte im Kommen. Zumindest, wenn es nach dem Streamingdienst-Anbieter Netflix geht. Während zuletzt die Mystery-Dramaserie "Mitternacht im Pera Palace“ ihre Zuschauer in die turbulenten Endjahre des Osmanischen Reichs versetzte, ließ die viel besprochene Serie "Der Club“ das Istanbul der 1950er Jahre wiederaufleben. Dass sich die türkisch-osmanische Geschichte lukrativ in glanzvollen Leinwandproduktionen vermarkten lässt, zeigten bereits Exportschlager wie die Serie "Das prächtige Jahrhundert“ über Leben und Lieben im Osmanischen Reich. Doch Geschichte ist in der Türkei nach wie vor ein ideologisches Schlachtfeld.
Geschichte als ideologisches Schlachtfeld
Eine gemeinsame starke Geschichte der "Türken“, dessen war sich bei der Gründung der Republik 1923 die kemalistische Führungselite bewusst, war von fundamentaler Bedeutung für die Identität, den Stolz und den Patriotismus ihrer neuen Nation. So legitimierte sie – zum einen, um mit der osmanischen Vergangenheit zu brechen, zum anderen um ihre nationalistische Assimilations- und Ausgrenzungspolitik gegenüber den Minderheiten zu unterfüttern – ihre bis heute weitgehend unangetastete nationalistische Geschichtsschreibung. Diese stellt Atatürks nationalistischen Befreiungskampf in ihr Zentrum, während sie in Fragen der türkisch-armenischen Geschichte oder der Minderheiten- und Kurdenpolitik eine unverändert rigorose Haltung einnimmt oder diese bewusst ausklammert.
Liberalisierung ab den 2000er Jahren
Eine kritische Betrachtung der offiziellen Geschichtsschreibung und eine Auseinandersetzung mit historisch-politischen Tabus – deren erste vorsichtige Anzeichen sich in den 1960er, vermehrt aber in den 1980er Jahren zeigten – begann in den 1990er Jahren mit dem Machtverlust der alten militärisch-bürokratischen Eliten. So zeichnete 2013 die Bosporus-Universität den Soziologen İsmail Beşikçi für seine Beschäftigung mit der Kurdenproblematik aus, für die er zuvor 17 Jahre in Haft gesessen hatte. Es erschienen Bücher wie "Anneanne" von Bahriye Çeri und "Baba ve Piç" von Elif Shafak (dt. "Der Bastard von Istanbul"), die erstmals eines der größten Tabus von Staat und offizieller Geschichtsschreibung thematisierten: Die systematische Vertreibung und Vernichtung der Armenier zu Beginn des 19. Jahrhunderts.
2005 fand, wenn auch unter großen Schwierigkeiten, in Istanbul die erste Konferenz zur Situation der Armenier am Ende des Osmanischen Reichs statt. Und besonders der erschütternde Mord an dem armenischen Journalisten Hrant Dink 2007 schien auf tragische Weise die Tür zum Dialog zu öffnen.
Zunehmende Selbstartikulation
In dieser Zeit begannen auch die von der offiziellen Geschichtsschreibung ausgesparten Gruppen zunehmend, ihre Stimmen zu erheben. Es entstehen Publikationen, wie die des türkisch-jüdischen Historikers Rıfat N. Bali über von offizieller Seite ausgeklammerte historische Ereignisse wie etwa das Istanbuler Pogrom von 1955. Robert Schild dagegen, 1950 als Sohn einer jüdisch-österreichischen Familie in Istanbul geboren, behandelt in seinen Kolumnen und Büchern verschiedene Aspekte des türkisch-jüdischen Lebens.
"Mit meinen Büchern, wie etwa dem über aschkenasischen Humor, richte ich mich vor allem an die muslimisch-türkische Bevölkerung, die größtenteils kein oder nur sehr geringes Wissen über das Judentum hat“, erklärt er. In seinen Werken schreibt er über das multiethnische und multikonfessionelle Zusammenleben auf der Prinzeninsel Burgazadası, die Grundzüge der jüdischen Geschichte sowie chauvinistisch motivierte Begebenheiten in den Anfangsjahren der Türkischen Republik, die bis vor rund 20 Jahren von der lokalen offiziellen Geschichtsschreibung gar nicht oder kaum erwähnt wurden. "Ich zeige die Probleme dieser Minderheit auf, auch innerhalb der türkischen Bevölkerung und stelle bescheidene Lösungsansätze vor“, beschreibt Schild sein Anliegen.
Mehr Interesse für Geschichte
Kenan Cruz Çilli ist Wissenschaftler mit portugiesisch-türkischen Wurzeln und Begründer der Onlineplattform Turkey Heritage Watch. Im Austausch mit seinen Followern teilt er Bilder und Informationen zu historischen Gebäuden und Monumenten. So möchte er im In- und Ausland ein stärkeres Bewusstsein für den immensen kulturellen Reichtum der Türkei schaffen.
"Kulturschätze werden hier generell nicht hinreichend geschützt. Und das kulturelle Erbe der Minderheiten wird besonders häufig zerstört, entweder aufgrund von Unwissenheit oder durch bewussten Vandalismus“, so Çilli. Bis heute würden die sephardischen Juden (Nachfahren der Juden, die bis zu ihrer Vertreibung 1492 auf der Iberischen Halbinsel lebten, Anm. der Red.) in der Türkei nicht als gleichberechtigte Staatsbürger betrachtet, sondern als eine von der muslimischen Mehrheit tolerierte Gruppe, die als Gäste aus Spanien gekommen sind und von den Türken als Gastgeber empfangen wurden, sagt er.
Dabei zeigten archäologische Funde, wie etwa die Überreste einer Synagoge aus dem 7. Jahrhundert in Side, dass Juden viel länger in Anatolien verwurzelt sind. In den letzten Jahren allerdings habe das allgemeine Interesse an der türkisch-jüdischen Geschichte zugenommen, meint Çilli. Davon zeugten auch internationale Projekte zum Schutz des kulturellen Erbes, etwa in Izmir und Ankara.
Familiengeschichten legen gesellschaftliches Mosaik frei
Der Wissenschaftler Rudi Sayat Pulatyan ist Armenier aus Istanbul und Mitbegründer des Oral History Projekts "Panavor“. In Gesprächen mit über die ganze Welt verstreuten West-Armeniern (ursprünglich aus dem Osmanischen Reich stammenden Armeniern) sammelt er immaterielles kulturelles Erbe wie Kinderlieder, Tänze, Hochzeits- und Beerdigungsriten, die er dann archiviert. Außerdem hat er gemeinsam mit der Hrant Dink Stiftung die App KarDes entwickelt, die Istanbuler Stadttouren entlang historischer, nichtmuslimischer Monumente anbietet.
"Bis heute wird immer wieder die historisch nicht belegte These angeführt, die Armenier seien einmal die vertrauenswürdigste Gemeinschaft, die 'millet-i sadika' gewesen, hätten aber im 19. Jahrhundert den Staat von hinten erdolcht“, so Pulatyan. Das führe bis heute dazu, dass Armenier Angst hätten, etwa ihren Namen zu sagen, in der Öffentlichkeit Armenisch zu sprechen oder ein Kreuz zu tragen. "Es ist das unbeschreibliche Gefühl, dass jederzeit etwas passieren könnte“, so Pulatyan.
Gleichzeitig beobachtet er, dass eine Schwelle überschritten wurde. "Zum einen ist es heute leichter, an Informationen zu gelangen, während früher der Staat die einzige Quelle war. Zum anderen interessieren sich immer mehr, besonders jüngere Menschen für ihre Familiengeschichte, die häufig mit der Geschichte von Armeniern aus Anatolien verwoben ist. Manche finden heraus, dass sie selbst Enkel von Frauen sind, die um die Zeit von 1915 vergewaltigt wurden.“
Mit dem Sammeln mündlich überlieferter Erzählungen möchte er die Geschichten jener Gruppen sichtbar machen, die in der offiziellen Geschichtsschreibung keinen Platz finden, sagt er. "Denn die armenische Kultur ist im Verschwinden begriffen und diese Erzählungen sind das einzige, was heute noch von ihr zeugt.“
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Weitere Informationen zu Forschungsprojekten unter İzmir Jewish Heritage Project und Jewish Quarter Ankara.