In der Türkei begehrt, in Deutschland ignoriert
An der Pinnwand im Großraumbüro einer Istanbuler Wohn- und Kulturagentur hängt ein grüner Flyer mit dem Abbild eines gegrillten Hähnchens. "Wienerwald ist ein Stück Heimat für mich", lacht Serpil Duygulu aus Frankfurt. "Ich falle hier durch meine Ehrlichkeit auf", ergänzt Sibel Sürücü aus Heidelberg. Kritik durch die orientalische Blume zu vermitteln, beherrsche sie einfach noch nicht.
Vor drei Jahren tauschten Duygulu und Sürücü ihre deutsche Heimat gegen Istanbul. Sich zu Zeiten der Globalisierung den attraktivsten Markt auszusuchen, ist erst einmal nichts Ungewöhnliches. Doch die beiden Frauen, geboren und ausgebildet in Deutschland, sind kein Einzelfall.
Seit Jahren schon ziehen mehr Menschen von Deutschland in die Türkei als umgekehrt. Laut dem statistischen Bundesamt sind im letzten Jahr 8.159 mehr türkische Staatsangehörige aus Deutschland abgewandert als zugezogen.
Die Deutsch-Türkische Stiftung für Bildung und wissenschaftliche Forschung in Istanbul schätzt, dass sich mittlerweile etwa 50.000 gut ausgebildete Deutschtürken im Alter zwischen 20-40 in der Türkei niedergelassen haben.
Raus aus der Ghettoisierung
Bei Serpil Duygulu war es die Familie, die wieder zurück nach Istanbul wollte. Mal in Istanbul leben, das wollte die Fremdsprachensekretärin schon immer. "Hier läuft alles nach Gefühl. Also habe ich vor einem Jahr meine Uhr abgeschafft. Aber seit meiner ersten Stunde bin ich hier integriert."
Sibel Sürücü, in Köln jahrelang als Betriebswirtin bei verschiedenen Medienunternehmen tätig, wollte sich endlich mal "einheimisch fühlen". "Ich wollte raus aus der Ghettoisierung, die man in Deutschland erlebt. Ständig nur "die Türkin" zu sein! Hier bin ich jetzt 'die Deutsche', aber irgendwie komplett."
Das ständige Gefühl, doch nicht dazuzugehören, obwohl man "deutscher" nicht sein kann – Geburt, Schulsystem, Ausbildung – hat auch Özel Aydin stark geprägt. Als zu der erlebten Ausländerfeindlichkeit auch noch die institutionelle Diskriminierung hinzukam, erforschte der erfolgreiche Einzelhandelskaufmann aus Hamburg die Heimat seiner Eltern als mögliches Auswanderungsziel.
"Nachdem ich gesehen habe, dass ich hier meine Bedürfnisse an das Leben in jeder Hinsicht erfüllt bekomme, habe ich mir gesagt: warum soll ich in Deutschland weiterleben, wo ich als quasi Deutscher doch nur als Ausländer weiter lebe? Ich habe die richtige Entscheidung getroffen. Ich fühle mich sehr wohl, misse nichts und werde in jeder Hinsicht anerkannt."
Denn hier, so der Sales Manager einer Oetker-Gruppe in Istanbul, "bin ich einfach nur Özel Aydin, mit einem etwas anderen Türkisch auf der Zunge."
Selbst erfüllende Prophezeiung der Ausgrenzung
Die Bewegung zeigt die großen Integrationsdefizite Deutschlands. Statt kulturelle Unterschiede zu akzeptieren und als Bereicherung zu empfinden, wie es bei Spaniern, Engländern oder Franzosen geschieht, wird den Deutschtürken oft eine problembehaftete Generalidentität, seit dem 11. September mitunter sogar eine "bedrohliche muslimische" Identität übergestülpt. Dass dies aber umgekehrt gerade erst eine türkische oder muslimische Selbstwahrnehmung fördert, wird in der Regel übersehen.
So verwundert es nicht, dass sich ausgerechnet die klugen Köpfe von Deutschland abwenden. Cigdem Akkaya etwa war es einfach leid, ständig um Anerkennung zu kämpfen. Und dies, obwohl sie 15 Jahre lang als stellvertretende Direktorin des Zentrums für Türkeistudien die Debatten maßgebend mit gestaltete.
"Ich habe lange den Dialog zwischen den Kulturen organisiert, die Diskussionen um die Leitkultur, Kopftücher und die Frage, ob die Türkei zu Europa gehört, begleitet. Doch ganz gleich was wir machten, am Ende hatte ich immer das Gefühl, wir Türken sind ein Problem. Ich hoffte auf die Gewissheit, eines Tages wirklich willkommen zu sein."
Heute leitet Cigdem Akkaya in Istanbul eine PR- und Eventagentur. In ihrer Freizeit bringt sie die "Deutschländer", wie sie sich selbst nennen, zu einem monatlichen "Stammtisch" mit über 1.000 Interessierten, zusammen. Die Bezeichnung "Rückkehrer" trifft übrigens nicht zu: Kaum einer der Istanbuler "Deutschländer" hat zuvor in der Türkei gelebt. Es handelt sich vielmehr um Transmigranten einer globalisierten Welt.
Späte deutsche Erkenntnis des Verlustes
Die zunehmende Auswanderung dieser Menschen ist keinesfalls ein "Luxusproblem", wie es der damalige Innenminister Thomas de Maizière während seiner Türkeireise im Oktober lapidar bezeichnete. Während sich die Türkei über das neue, hochqualifizierte Potential freut, beginnt auch Deutschland aufmerksam zu werden. Bundespräsident Christian Wulff erkannte während seiner Türkeireise im November 2010 den Verlust.
"Ich habe hier so tolle junge Leute kennen gelernt, die mehrere Jahre oder lange in Deutschland waren, viel von der deutschen Kultur erfahren haben, aber ihre Zukunft in der Türkei sehen. Ich kann das nur verschmerzen, wenn diese jungen Menschen sich wenigstens dem Land Deutschland auch loyal verpflichtet sehen."
Mit Deutschland verbunden fühlen sich durchaus viele. So auch der Sportmediziner Ertugrul Karanlik. Doch er wollte nicht mehr ständig gegen die gleichen Missstände ankämpfen:
"Als Akademiker habe ich nirgends soviel Ablehnung erfahren wie in Deutschland. Erst mit dem Beruf als Arzt gab es eine gewisse Anerkennung. Aber sich Sätze wie 'Ich lass mich von einem türkischen Arzt nicht behandeln' oder sich von einem Richter, der als Privatpatient seine Rechnung nicht bezahlen wollte, anhören zu müssen, dass ich als Ausländer zu wissen habe, wie man sich verhält, haben meinen Weggang vereinfacht."
Heute arbeitet Karanlik als Mannschaftsarzt des Erstligisten Fenerbahce in Istanbul.
Zuhause in zwei Kulturen
Der Münchener Architekt Erdogan Altintas hingegen jongliert und lebt zwischen beiden Kulturen. Seit 14 Jahren restauriert er im Istanbuler Galata-Viertel alte Wohnungen und kann sich beruflich viel leichter behaupten als in Deutschland.
"Ich denke immer an meine Kollegen in München. So wird mir bewusst, in welch glücklicher Lage ich hier in Istanbul bin, und wie schön es ist, in beiden Kulturen aufgewachsen zu sein. Ich kann mich noch an die Fragen erinnern: 'Wie fühlst Du dich, bist Du Deutscher oder Türke, wohin gehörst Du?' Manchmal konnte ich sogar das Mitleid spüren – als ob ich armer Kerl kein zu Hause hätte. Jetzt kann ich darüber nur noch lächeln."
Semiran Kaya
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Redaktion: Lewis Gropp/Qantara.de