Von Helden und Mythen
Seit jeher rankten sich Legenden um die geheimnisvolle Oasensiedlung. Gegründet im 12. Jahrhundert, entwickelte sie sich dank ihrer Lage als Knotenpunkt zwischen dem Flusshandel auf dem Niger und der Karawanenstraßen durch die Sahara bis zum 14. Jahrhundert zu einem bedeutenden Handelszentrum. Händler und Karawanenführer berichteten von unermesslichem Reichtum und Hausdächern aus Gold.
Die Kolonialmächte England und Frankreich wetteiferten jahrelang, um Timbuktu zu finden, das Geheimnis der Stadt zu lüften – und von ihrem Reichtum zu profitieren. Immer wieder machten sich tollkühne Pioniere auf die Suche, ohne jedoch ihr Ziel zu erreichen. Als schließlich 1828 der Franzose René Caillié als Araber verkleidet in die Wüstenstadt kam, fand er statt goldgedeckter Dächer nur einfache Lehmhäuser und staubige Pfade vor. Das entsprach so wenig den Hoffnungen und Erwartungen der Europäer, dass man ihm lange nicht glaubte.
Erst 25 Jahre später wurden Cailliés Berichte vom deutschen Afrikaforscher Heinrich Barth bestätigt. Dieser stieß allerdings bald auf einen ganz anderen Reichtum, den schon der verschollene Brite Alexander Gordon Laing 1826 in einem Brief erwähnt hatte: alte Manuskripte und gesammelte Schriften, die die Geschichte Westafrikas in einem völlig neuen Licht erscheinen ließen.
Timbuktu als Zentrum islamischer Gelehrsamkeit
Bis dahin war man in Europa davon ausgegangen, dass „unwissende Wilde“ im Landesinneren lebten. Doch die Texte zeugten von einer jahrhundertealten schriftlichen Tradition. Bedeutende Chroniken zeigten, dass sich Timbuktu seit dem Mittelalter von einer Karawanserei zu einem Zentrum islamischer Gelehrsamkeit entwickelt hatte. Bei den Manuskripten handelte es sich um vorrangig arabische Texte über Astronomie, Medizin, Geschichte, Religion und Poesie sowie um Rechtsdokumente, die sich im Privatbesitz verschiedener Familien befanden. Erst 1973 wurde mit Unterstützung der UNESCO ein eigenes Forschungsinstitut zur Aufarbeitung und Sammlung dieser Schriften eingerichtet.
Als 2012 Dschihadisten die Stadt eroberten, war dieser Schatz in großer Gefahr. Im Januar 2013 teilte der Bürgermeister von Timbuktu der Weltöffentlichkeit mit, dass Teile der jahrhundertealten Manuskripte verbrannt worden seien. Daraufhin hängte Charlie English, Auslandsredakteur beim britischen Guardian, seinen Job an den Nagel, um der Geschichte auf den Grund zu gehen und ein Buch darüber zu schreiben.
Wie ein Abenteuerroman
Bei seinen umfangreichen Recherchen stieß English auf den Bibliothekar Abdel Kader Haidara, der gemeinsam mit weiteren Bibliothekaren, Gelehrten und zahlreichen Helfern in einer spektakulären Rettungsaktion versuchte, die wertvollen Manuskripte aus der Stadt zu schaffen. In seinem 2018 erschienenen Buch, das sich wie ein Abenteuerroman liest, verknüpft English die Geschichte der Bücherrettung mit der Geschichte der Stadt, der Manuskripte und der Mythen in zwei parallel verlaufenden Erzählsträngen.
Haidara und seine Helfer schafften es, internationale Gelder zu akquirieren, besorgten zahlreiche Seekisten und Fässer und schmuggelten schließlich Nacht für Nacht unter Lebensgefahr die wertvollen Manuskripte – in Kisten verpackt, unter Lebensmitteln auf Pick-ups und später auch in kleinen Booten versteckt – an Checkpoints vorbei. Am Ende, so behauptet der Bibliothekar Haidara in Englishs Buch, seien auf diese Weise 377.491 Dokumente aus Timbuktu heraus- und in Bamako in Sicherheit gebracht worden. Nur wenige Schriften seien den Islamisten zum Opfer gefallen.
Erst ganz am Ende seines Buches rückt English mit dem Verdacht heraus, dass die reale Zahl der geretteten Manuskripte kleiner gewesen sein könnte als behauptet. Dies schmälert allerdings den Verdienst der Retter kaum – und es passt zum Mythos der legendenumwobenen Stadt Timbuktu.
Dagmar Wolf
© Zeitschrift Entwicklung und Zusammenarbeit 2019
Charlie English: „Die Bücherschmuggler von Timbuktu. Von der Suche nach der sagenumwobenen Stadt und der Rettung ihres Schatzes“, Hamburg 2018, Verlag Hoffmann und Campe.