Beziehungsstatus schwierig
Als der türkische Außenminister Hakan Fidan Anfang Juni 2024 bestätigte, dass die Türkei eine Mitgliedschaft in der BRICS-Gruppe ernsthaft in Erwägung ziehe, dürfte er damit ein Nebenthema auf die Agenda des NATO-Gipfels am 9. Juli 2024 in Washington gesetzt haben. Bei den Feierlichkeiten zum 75. Jubiläum des Bündnisses werden die Blicke naturgemäß vor allem nach Russland gerichtet sein. Doch Stärke braucht Geschlossenheit. Mit Blick auf die Geschlossenheit der Allianz und die Türkei stellen sich drei Fragen: Wie verlässlich ist die Türkei? Wie steht die türkische Regierung zur transatlantisch-europäischen Sicherheitsarchitektur? Wie lässt sich das gegenseitige Misstrauen überwinden?
Klar ist: Eine weitere Entfremdung des geostrategisch wichtigen Bündnispartners Türkei muss verhindert werden. Dies erfordert eine lösungsorientierte Agenda, den Willen zum Pragmatismus und eine konstruktive Kommunikation der NATO-Staaten mit der Türkei.
Regionalmacht mit geostrategischer Bedeutung
Die Bedeutung der Türkei für die NATO beruht in erster Linie auf ihrer geographischen Lage. An der Schnittstelle zwischen Europa, Asien und Afrika kontrolliert das Land den Seeweg vom Mittelmeer zum Schwarzen Meer und liegt an der für die Weltwirtschaft äußerst wichtigen Seehandelsroute Asien-Europa. Gleichzeitig ist es ein wichtiger Transportkorridor für Erdöl und Erdgas zwischen dem Kaukasus bzw. dem Nahen Osten und Europa. Sicherheitspolitisch bedeutsam ist die Türkei auch aufgrund ihrer schnell wachsenden Rüstungsindustrie, der zweitstärksten Sicherheitskräfte der NATO und einer entsprechenden Sicherheitskultur. Als Frontstaat ist sie zugleich ein natürlicher Schutzschild: Er trägt dazu bei, Russlands Einflussstreben in der Schwarzmeerregion, im östlichen Mittelmeer, auf dem Balkan und im Kaukasus einzudämmen.
„Als Frontstaat ist die Türkei ein natürlicher Schutzschild: Er trägt dazu bei, Russlands Einflussstreben in der Schwarzmeerregion, im östlichen Mittelmeer, auf dem Balkan und im Kaukasus einzudämmen.“
Die Türkei hat sich im vergangenen Jahrzehnt zu einer Regionalmacht mit nahezu globalem Aktionsradius entwickelt, die im Zentrum geopolitischer Rivalitäten steht und eigene sicherheits- und geopolitische Akzente setzt. Zuletzt im Ukraine-Krieg: Die Türkei unterstützt das Land militärisch durch Waffen- und Munitionslieferungen, politisch indem sie den NATO-Beitrittswunsch der Ukraine befürwortet, die Annexion der Halbinsel Krim durch die Russische Föderation nicht anerkennt, die russische Kriegsmarine am Eindringen ins Schwarze Meer hindert, ein Getreideabkommen zustande bringt und zwischen den Kriegsparteien vermittelt. Die Türkei spielt damit eine entscheidende Rolle bei der Verteidigung Europas. Deshalb ist es ein militärpolitischer Imperativ, dass das Land stärker in die Verteidigungs- und Rüstungspläne Europas einbezogen wird. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine erfordert eine massive Aufstockung nationaler Verteidigungshaushalte und Verbesserung der militärischen Fähigkeiten europäischer NATO-Staaten. Vor allem aber muss es eine Zusammenführung von nationalen Armeen zu einer einheitlichen Kampftruppe und eine Bündelung von Verteidigungsanstrengungen unter dem Dach der NATO geben. Das Militärbündnis ist ein politisch-militärisches Forum, in dem sich europäische Mitgliedsstaaten mit den USA, Kanada und der Türkei abstimmen können.
Die Blicke müssen auch auf den asiatisch-pazifischen Raum gerichtet sein. Kommt es dort zu einer Verschärfung des Konflikts mit China wären die USA gezwungen, ihre Luftverteidigungssysteme und ihre Transport- und Tankflugzeuge in den Indopazifik zu verlegen. Russland könnte dies zum Anlass nehmen, die Ostflanke der NATO herauszufordern. In einer solchen Konstellation käme der Türkei eine zweifache strategische Rolle zu. Erstens böte eine vertiefte Kooperation mit der türkischen Rüstungsindustrie die Chance, die Abhängigkeit Europas von der überlasteten US-Rüstungsindustrie zu verringern. Die türkische Rüstungsindustrie verfügt über herausragende Kapazitäten zur Herstellung von Munition und Luftabwehrsystemen kurzer und mittlerer Reichweite. Zweitens würde die türkische Marine gemeinsam mit den Seestreitkräften anderer NATO-Staaten die Seehandelsrouten im Roten Meer, Persischen Golf und Indischen Ozean sichern.
„Die türkische Rüstungsindustrie verfügt über herausragende Kapazitäten zur Herstellung von Munition und Luftabwehrsystemen kurzer und mittlerer Reichweite. Auch würde die türkische Marine die Seehandelsrouten im Roten Meer, Persischen Golf und Indischen Ozean sichern.“
Die Türkei ist längst zu einer Regionalmacht aufgestiegen und nutzt dezidiert die zunehmende Multipolarität der Weltpolitik und die Diversifizierung und Fragmentierung nationaler Interessen, um eine multivektorale Außenpolitik zu verfolgen. Dies zeigt sich vor allem in ihrem Verhältnis zu Russland. Ankara hat sich den Russland-Sanktionen der EU nicht angeschlossen. Das hat bei NATO-Partnern für Unmut gesorgt und die Frage der Loyalität aufgeworfen: Wie verlässlich ist die Türkei?
Ein höchst schwieriger, aber verlässlicher Partner
In zahlreichen europäischen Ländern sowie in den USA bestehen Vorbehalte gegenüber der Türkei, die sich in Meinungsumfragen manifestieren. Diese Vorbehalte sind begründet, insbesondere hinsichtlich ihrer innenpolitischen Entwicklungen wie Demokratiedefizite, rechtsstaatliche Mängel und Menschenrechtsverletzungen. Die Kritik an der Türkei bezog sich auch auf die Militäroffensive in Nordsyrien sowie die NATO-Erweiterung um Schweden und Finnland. Trotz bestehender Differenzen hinsichtlich der nationalen Interessen und der Bedrohungswahrnehmung mit den NATO-Mitgliedern, insbesondere mit den USA, hat die Türkei ihre sicherheitspolitischen und militärischen Bündnisverpflichtungen mit der gebotenen Sorgfalt erfüllt.
In den 2000er Jahren haben sich die Beziehungen zwischen der Türkei und der NATO intensiviert und diversifiziert. Das Land gehört zu den fünf Mitgliedstaaten mit der höchsten Beteiligung an NATO-Operationen. Sie war in Afghanistan im Rahmen der Resolute Support Mission vertreten, nach Kosovo entsandte sie Truppen im Rahmen der Operation KFOR und unterstützte in der Ägäis Aktivitäten zur Verhinderung der irregulären Migration. Die Türkei ist Gastgeber für das NATO-Landkommando (LANDCOM) sowie für mehrere NATO-Einrichtungen, darunter das Hauptquartier des schnell verlegbaren Korps, das Kompetenzzentrum für Terrorismusbekämpfung, das Ausbildungszentrum der Partnerschaft für den Frieden und das multinationale Kompetenzzentrum für maritime Sicherheit. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 leistete die Türkei den USA Beistand. Ankara begrüßte den Mittelmeerdialog und betonte, dass die Sicherheit des Mittelmeers integraler Bestandteil Europas sei. Seit 1997 befürwortet die Türkei zudem die Erweiterung der NATO sowie die Entwicklung des Bündnisses zu einem globalen Akteur. Ankara begrüßte nachdrücklich den NATO-Einsatz in Afghanistan, befürwortet NATO-Operationen im Mittelmeerraum und Nahen Osten.
„Ankara befürwortet nachdrücklich die Erweiterung der NATO sowie die Entwicklung des Bündnisses zu einem globalen Akteur.“
Die Gewährleistung der weiteren Verlässlichkeit der Türkei sowie deren Verbleib in der NATO ist dadurch sichergestellt, dass das Militärbündnis für die Türkei von essenzieller Bedeutung ist. Ein Ausscheren aus dem Bündnis kommt für die Türkei demnach nicht in Frage. Ohne den nuklearen Schutzschirm der NATO würde sich die Sicherheitslage des Landes massiv verschlechtern. Ein kompletter Rückzug der Türkei aus dem Militärbündnis würde die Türkei nicht nur gegenüber Russland, sondern auch gegenüber Iran und sogar Griechenland schwächen und ihren geo- und sicherheitspolitischen Handlungsspielraum einengen. Es liegt daher in beiderseitigem Interesse, die Zusammenarbeit fortzusetzen.
In der Türkei selbst gibt es breite Unterstützung für die Mitgliedschaft in der NATO. Innerhalb des politischen Spektrums lassen sich sowohl rechts als auch links des Parteienspektrums kritische Töne vernehmen, die jedoch nur einen geringen Einfluss ausüben. Weder Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan noch andere führende Entscheidungsträger und Politiker haben einen Austritt der Türkei aus der NATO in Erwägung gezogen. Stattdessen wurde seitens der türkischen Regierung wiederholt betont, dass die Türkei ein integraler Bestandteil der NATO ist und bleiben will, trotz Spannungen mit einzelnen Mitgliedstaaten. Die NATO-Mitgliedschaft der Türkei wird durch die Verankerung des Landes in der transatlantischen politischen Ordnung gestärkt.
Innerhalb der europäischen Ordnung verankert
Die Türkei ist in westlich-europäische Institutionen eingebettet. Das Land ist Mitglied bei der Weltbank, dem IWF, dem Europarat, der OECD, der OSZE und ist EU-Beitrittskandidat. Die Türkei ist kürzlich der European Sky Shield Initiative beigetreten. Verteidigungsminister Yaşar Güler hat den Wunsch geäußert, dass die türkischen Streitkräfte im Falle einer Europa-Armee dieser beitreten sollten. Staatspräsident Erdoğan hat bereits 2021 Interesse bekundet, dass die Türkei an der EU-Verteidigungsinitiative PESCO teilnimmt.
Die Türkei ist über die Zollunion in den europäischen Wirtschaftsraum integriert. Ein Drittel des türkischen Handels entfällt auf die EU, die zugleich der weltweit wichtigste Absatzmarkt für die türkische Industrie sowie für türkische Dienstleistungsimporte (Tourismus) ist. Der EU-Wirtschaftsraum stellt zudem den Hauptlieferanten von hochtechnologischen Produkten und Dienstleistungen sowie von Kapitalzuflüssen und transformativen ausländischen Direktinvestitionen dar.
Das Selbstverständnis der Türkei als Teil der westlichen Welt ist weiterhin stark verankert, wenngleich die islamische Identität eine zunehmend wichtigere Rolle einnimmt. Die multiple Identität der Türkei erlaubt ihr, eine wesentliche Brückenfunktion zwischen dem Westen und der „islamischen Welt“ sowie dem „Globalen Süden“ einzunehmen.
„Die multiple Identität der Türkei erlaubt ihr, eine wesentliche Brückenfunktion zwischen dem Westen und der ‘islamischen Welt‘ sowie dem ‚Globalen Süden‘ einzunehmen.“
Die Glaubwürdigkeit des „Globalen Nordens“ in den Augen des „Globalen Südens“ hat durch die als unterschiedlich wahrgenommene Haltung vieler NATO-Staaten zum Krieg in der Ukraine und zum Vorgehen Israels im Gaza-Krieg gelitten. Dies fördert die Skepsis gegenüber dem „Westen“ und begünstigt Russland und China. Die Türkei genießt in weiten Teilen des „Globalen Südens“ den Ruf eines verlässlichen und glaubwürdigen Akteurs und könnte in dieser Frage einen Dialog fördern.
Wie kann das gegenseitige Misstrauen abgebaut werden?
Die Türkei stellt einen der wichtigsten Verbündeten der NATO dar. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, die Beziehungen zu ihr auf eine sachlich-realistische Grundlage zu stellen. Dazu ist es erforderlich, einen Ansatz zu wählen, der Differenzen auf einer sachlichen Ebene verhandelt, Interessenkonflikte ausgleicht und Vertrauen aufbaut. Daher erscheint es sinnvoll, die Türkei in die transatlantisch-europäische Sicherheitsarchitektur zu integrieren. Drei Instrumentarien stünden hierfür bereit: Erstens die Aufhebung der deutschen Restriktionen bei der Beschaffung von Motoren und Getrieben für Altay-Panzer und beim Kauf von Eurofightern sowie die Bemühungen um eine Rückkehr der Türkei in das F-35-Programm. Zweitens die Türkei an den Verteidigungs- und Rüstungsprojekten der EU-Verteidigungsinitiative PESCO teilnehmen zu lassen. Drittens Ankara in die Diskussionen über den Aufbau einer Europa-Armee einbeziehen.
Klar ist: Auch wenn zwischen Russland und der Türkei intensive Wirtschaftsbeziehungen bestehen, stellt der russische Revisionismus eine Herausforderung auch für die nationalen Interessen Ankaras dar. Um sicherzustellen, dass Russland nicht als Nutznießer aus der europäisch-türkischen Rüstungskooperation hervorgeht, wären verbindliche bi- oder minilaterale Vereinbarungen im Vorfeld von Rüstungsprojekten denkbar. Zudem ist die Türkei nicht daran interessiert, dass Russland gestärkt aus dem Ukraine-Krieg hervorgeht, zumal dies die Machtverhältnisse im Schwarzen Meer massiv zugunsten Russlands verschieben und Moskau wieder mehr Einfluss im Kaukasus und in Zentralasien verschaffen könnte.
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Yasar Aydin ist Wissenschaftler bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Seine Forschungsschwerpunkte sind die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei, EU-Türkei-Beziehungen, türkische Migration und Diaspora in Deutschland, Wirtschaft der Türkei sowie Internationale Politik.