Die Schule der Taliban gibt sich unpolitisch
Das Zimmer liegt am Ende dunkler Höfe und schmaler Gänge, im Herzen der Darul uloom von Deoband, der bedeutendsten islamischen Religionsschule Asiens. Die Fensterläden gegen die Hitze des nordindischen Sommers geschlossen, sitzt Sayyed Anwer, einer der beiden Englischlehrer der Schule, im Halbdunkel auf einer Strohmatte, die geöffnete Kopie eines Korans an seiner Seite.
Wie alle hier trägt er einen dichten Bart, ein langes Hemd und eine bestickte Kappe, durch die Finger lässt er die Perlen seiner Gebetskette gleiten.
Nein, die Darul uloom habe niemals Verbindung zum Terrorismus gehabt. "Nach den Anschlägen 2001 haben alle auf uns gezeigt, doch die Studenten hier suchen spirituelle Erkenntnis, für politische Fragen interessieren sie sich nicht", sagt der Lehrer und lächelt, als wäre die Idee einer Verbindung zum Terrorismus völlig absurd.
Dabei war der Verdacht gegen die Schule nach den Anschlägen auf das indische Parlament im Dezember 2001 so stark, dass die Regierung die Schule wiederholt durchsuchen ließ.
Der Ruf einer "Terrorschmiede"
Tatsächlich ist die Darul uloom mehr als eine Hochschule, an der junge Männer die heiligen Schriften studieren, um einmal als Mullah oder Koranlehrer zu arbeiten: Sie ist der Ausgangspunkt einer islamischen Erweckungsbewegung, der weltweit Tausende Schulen angehören, und deren radikalste Vertreter die afghanischen Taliban sind.
Denn es waren die Koranschulen der Deobandi-Bewegung, die in den afghanischen Flüchtlingslagern die staatlichen Schulen ersetzten, aus denen die Taliban hervorgegangen sind.
Nach den Anschlägen 2001 hat die Darul uloom den Ruf einer Terrorschmiede erlangt. Eine direkte Verwicklung in Anschläge konnte ihr jedoch nie nachgewiesen werden.
"Theoretisch streben die Deobandis auch in Indien die Errichtung eines Islamischen Staates an", erklärt Azhad Alam von der Jamia-Millia-Universität in Delhi, der über den islamischen Bildungssektor forscht. "Doch im vorwiegend hinduistischen Indien haben die Deobandis das säkulare Staatssystem als den im Moment besten Schutz für die Muslime akzeptiert."
1866 gegründet, um angesichts des zunehmenden Einflusses der Briten die Identität der Muslime zu stärken, beteiligte sich die Schule zwar am Befreiungskampf gegen die Briten, doch seit der Unabhängigkeit Indiens 1947 war sie darauf bedacht, sich aus der Politik herauszuhalten.
Ebenso verwahrte sie sich gegen staatliche Einflussnahme, weshalb sie, als der Staat nach den Anschlägen 2001 versuchte, die Religionsschulen zur Aufnahme säkularer Fächer in ihren Lehrplan zu bringen, das dafür angebotene Geld abgelehnt hat.
Englisch und Computerkurse für die Koranschüler
Noch immer liegt der Schwerpunkt des Lehrplans auf dem Studium des Korans sowie auf islamischem Recht und arabischer Sprache. Fächer wie Logik und Mathematik genießen weniger Ansehen. Naturwissenschaften werden gar nicht gelehrt.
"Als die Schule gegründet wurde, war sie sehr modern", sagt der Forscher Azhad Alam. "Es war für die damalige Zeit eine Neuerung, an einer festen Einrichtung nach einem festen Lehrplan mit geregelten Prüfungen zu studieren. Heute jedoch sind Inhalt und Methodik des Studiums veraltet."
Die Schulleitung ist sich bewusst, dass sie die Schule modernisieren muss. Doch sie tut sich schwer damit. Immerhin hat sie 2001 Englisch- und Computerkurse eingeführt. "Das war sehr umstritten", sagt Naushad Alam und lächelt. Der junge Mann mit dem lockigen Bart hat sich auf der Strohmatte neben Sayyid Anwer niedergelassen, bei dem er als einer von nur 22 Studenten ein zweijähriges Aufbaustudium in Englisch belegt.
Wie viele der Studenten stammt Naushad Alam aus Bihar, dem Armenhaus Indiens. Anders als die meisten hätte er die Möglichkeit zum Studium an einer säkularen Universität gehabt, denn sein Vater ist Englischlehrer, sein Bruder studiert Biologie.
Trotzdem entschied er sich für die Ausbildung zum Religionsgelehrten, die in der noch immer traditionell geprägten indischen Gesellschaft ein hohes Ansehen verspricht. Gerade in den Dörfern ist der Mullah noch immer eine Autoritätsperson.
Im Gespräch mit ihm wird deutlich, wo die Radikalität der Deobandis liegt. Zum Verhältnis zu Schiiten und Ahmadis, einer kleinen islamischen Sekte, befragt, antwortet er bestimmt, dass dies keine Muslime, sondern Ungläubige seien.
Schon seit der Gründung der Schule zählt der Kampf gegen Schiiten und Ahmadis zu einem der zentralen Zielen der Deobandis. Ein Kampf, den die Taliban während ihrer Herrschaft in Afghanistan blutig in die Tat umgesetzt haben.
Als das Gespräch auf die Rolle der Frau kommt, wird der sonst so freundliche Mann scharf. "Nirgendwo werden mehr Frauen vergewaltigt als in Amerika", sagt Naushad Alam. "Und warum? Weil die Frauen sich dort nicht richtig bedecken und die Männer herausfordern.
In Saudi-Arabien, wo die Frauen einen Schleier tragen, gibt es keinen einzigen Fall von Vergewaltigung." Der Islam achte die Frauen, sagt er. Es sei ihnen keineswegs verboten, das Haus zu verlassen – sie dürften nur keinen Kontakt zu fremden Männern haben.
Mutmaßliche Verschwörungen
Sein Englischlehrer, Sayyed Anwer, kommt von selbst auf den Vorwurf des Terrorismus zurück. "Wie sollen wir Terroristen sein? Wir sind arm und haben keine Waffen. Im Irak hat man doch gesehen, dass es keine Massenvernichtungswaffen gab.
Dennoch hat Amerika das Land angegriffen, und nun sterben dort jeden Tag Hunderte von Muslimen", sagt er anklagend. Für Sayyed Anwer steht fest: überall in der Welt werden Muslime verfolgt – im Irak, in Palästina, in Afghanistan, auch in Indien. Und das ohne Grund.
"Es ist nie bewiesen worden, dass die Anschläge auf das World Trade Center von Muslimen begangen wurden", sagt er, und einen Moment hält die Bewegung der Gebetsperlen inne.
Wer sich mit Amerika verbünde, sagt er dann, dürfe sich nicht wundern, wenn es zu Anschlägen komme, bei denen Unschuldige sterben. Über den Dächern erschallt der Ruf des Muezzins, es ist Zeit fürs Gebet. Sayyed Anwer lässt dem Gast den Vortritt, als er auf den Hof tritt. Er ist ein höflicher Gastgeber.
Ulrich Schwerin
© Qantara.de 2008
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