"Wir sind der Hölle entkommen“
Fast acht Monate liegt der Terrorangriff der Hamas auf Israel zurück, bei dem mehr als tausend Menschen getötet wurden. Seitdem führt die israelische Armee im Gazastreifen einen erbitterten Krieg und legt mit ihren Luftangriffen auch Wohnhäuser, Schulen und Straßen in Trümmer.
Vor einigen Tagen hat Israels Armee Rafah bombardiert. Die Stadt liegt im äußersten Süden Gazas, an der Grenze zu Ägypten, und ist Zufluchtsort Hunderttausender Menschen, die aus anderen Teilen Gazas geflohen sind. Bei dem Angriff wurde ein Zeltlager der Geflüchteten getroffen, dutzende Menschen wurden getötet, darunter viele Kinder. Der Angriff hätte auch Mohamed Isbitah treffen können – wenn er sich nicht rechtzeitig zur Flucht entschieden hätte.
Der 37-jährige Isbitah hat vor dem Krieg ein Produktionsbüro in Gaza-Stadt geleitet. Er hat lokalen und internationalen Reportern bei ihrer Arbeit im Gazastreifen etwa mit Kontakten geholfen, auch die Autorin dieses Textes hat mit ihm gearbeitet. Isbitah hat Gaza-Stadt mit seiner hochschwangeren Frau und den vier Kindern gleich nach Beginn der israelischen Angriffe verlassen. Die Familie war erst für einige Monate im Flüchtlingslager Nuseirat, das rund 14 Kilometer südlich von Gaza-Stadt liegt. Mit dem Vorrücken der israelischen Armee floh sie weiter in den Süden bis nach Rafah. Von dort konnte die Familie vor wenigen Wochen nach Ägypten entkommen.
Die Autorin steht mit Isbitah seit Kriegsbeginn in Kontakt. In Text- und Sprachnachrichten berichtet er von den dramatischen Monaten der Flucht – und davon, wie der Krieg seine Familie auch in Kairo nicht loslässt.
"Was gerade in Rafah passiert, ist ein Albtraum. Die Bilder von verkohlten Zelten, von Kindern, die in den Trümmern nach Angehörigen suchen, sind unerträglich. Auch wenn wir nicht mehr dort sind, fühlen wir mit unseren Freunden und Angehörigen in Gaza mit. Niemand ist dort sicher. Wir sind der Hölle entkommen.
Wir mussten unsere Wohnung in Gaza-Stadt im Oktober, kurz nach Kriegsbeginn, verlassen. Die israelische Armee schickte eine Warnung, dass sie unser Haus bombardieren würde. Mein Haus wurde bei den Luftschlägen, die folgten, zwar nicht getroffen.
Dafür wurde die Wohnung meines Vaters zerstört und die Wohnungen meiner beiden Brüder wurden stark beschädigt. Es ist kaum zu fassen: Ich habe jahrelang in Doppelschichten gearbeitet, damit ich genug Geld zusammenbekomme, um unsere Wohnung zu kaufen und meiner Familie ein schönes Zuhause zu schaffen. Und vermutlich ist davon inzwischen nicht mehr als etwas Schutt übrig.
Überall schlugen die Bomben ein
Wir sind dann im Flüchtlingslager Nuseirat im Haus eines Freundes unterkommen, aber auch dort wurden wir die ganze Zeit bombardiert. Wir waren erst wenige Tage dort, dann der Schock: Bei meiner schwangeren Frau setzten plötzlich die Wehen ein. Es war mitten in der Nacht und sie schrie und bat mich, sie schnell ins Krankenhaus zu bringen. Ich versuchte, sie ins Auto zu hieven, aber zu der Zeit schlugen überall Bomben ein, es war zu gefährlich.
Wir ließen das Auto stehen und ich versuchte, einen Krankenwagen zu rufen. Auch das ging nicht, ich hatte keine Telefonverbindung. Meine Frau musste das Baby so zur Welt bringen. Zum Glück haben beide die Geburt gut überstanden. Unser kleines Mädchen ist eine Kämpferin.
Unser Alltag wurde mit jedem Tag beschwerlicher. Ich zog immer wieder los, um sauberes Wasser, Trinkwasser und Lebensmittel für meine Familie zu finden. Aber auf dem Markt wurde kaum noch etwas angeboten und unsere Vorräte gingen zur Neige.
Zurück nach Gaza-Stadt konnten wir nicht, die israelische Armee hatte alles abgeriegelt und uns Zivilisten verboten, zurückzukehren. Wer es dennoch versuchte, wurde von israelischen Scharfschützen angeschossen.
Weil die israelischen Bodentruppen vom Norden immer weiter in den Süden und in unsere Richtung vorrückten, sind wir im Dezember nach Zawayda geflohen, einem Ort etwas weiter südlich vom Nuseirat- Lager. Von überall waren nun Bombeneinschläge zu hören.
Einmal fragte mich meine fünfjährige Tochter, ob ich wisse, welcher Tag heute sei. Ich sagte ihr, es sei wohl Mittwoch. Sie sagte: 'Ja und es ist mein Geburtstag, planst du eine Feier für mich?' Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Ich konnte weder Bonbons noch Schokolade oder sonst etwas für sie auftreiben.
Gefangen in Rafah
Wir waren etwa einen Monat in Zawayda, als die israelische Armee Flugblätter abwarf und uns Zivilisten aufforderte, nach Rafah umzusiedeln. Das haben wir Ende Januar auch gemacht. Wir kamen in einem Lager für Binnenvertriebene unter, wo schon einige Verwandte waren. Wie sie haben wir in einem provisorischen Zelt gehaust.
Die Lage in Rafah ist katastrophal. Es kommen kaum Hilfsgüter an, die Menschen haben Hunger und sind völlig erschöpft. Es gibt keine funktionierenden Schulen, Krankenhäuser, Märkte. Die Ärzte und Helfer sind mit den vielen Verwundeten komplett überfordert.
Wir fühlten uns in Rafah gefangen. Jeden Tag haben wir nach Trinkwasser gesucht. Es war erst eisig kalt, dann sehr heiß. Lebensmittel waren kaum zu bekommen und wenn, waren sie völlig überteuert. Meine Kinder verfielen in eine Art Schockstarre. Sie konnten sich nicht daran gewöhnen, ein Loch in der Erde als Toilette benutzen zu müssen. Sie litten darunter, weder Obst, Fleisch, Eier noch Süßigkeiten essen zu können.
Sie waren die ganze Zeit angespannt und nervös. Wir konnten wegen des Lärms nachts kaum schlafen, das ständige Wummern der Luftangriffe, das immerwährende Surren der Drohnen über unseren Köpfen. Eines Morgens wachte meine achtjährige Tochter weinend auf und sagte: ‚Papa, ich glaube, es gibt keinen Platz für mich in dieser Welt, vielleicht bin ich bald im Himmel.‘
Krieg gegen die Kinder
Als die israelische Armee im März zum zweiten Mal das Al-Shifa-Krankenhaus stürmte, war mir klar, dass wir Gaza verlassen müssen. Ab da war es nur noch eine Frage der Zeit, bis die israelischen Soldaten auch Rafah einnehmen würden.
Bei den vorherigen Kriegen war es mir nie in den Sinn gekommen, meine Heimat zu verlassen. Aber dieser Krieg ist anders, er trifft vor allem die Kinder. Jeden Tag werden in Gaza Kinder getötet. Ich konnte nicht rumsitzen und darauf warten, dass es auch meine Kinder erwischt. Deswegen fasste ich den Entschluss, mich und meine Familie in Sicherheit zu bringen.
Mein Bruder war zu der Zeit schon in Kairo. Ich überwies ihm Geld, damit er Schmuggler bezahlen konnte, die uns aus Gaza rausholen konnten. Ich musste den Ägyptern insgesamt 31.000 Dollar zahlen, meine letzten Ersparnisse. Die Schmuggler arbeiten für eine Agentur in Kairo, die sich darauf spezialisiert hat, Familien aus dem Gazastreifen rauszubringen.
Der Menschenschmuggel lief unspektakulär ab: Sobald die Mitarbeiter der Agentur das Geld hatten, trugen sie unsere Namen auf einer Liste ein, die am Grenzübergang Rafah hinterlegt war. So konnten wir die Grenze nach Ägypten unbehelligt passieren.
Schattendasein in Kairo
In Kairo versuchen wir, in ein normales Leben zurückzufinden. Einfach ist das nicht. Wir wohnen in der Nähe des Flughafens und immer, wenn ein Flugzeug näherkommt, glauben meine Kinder, dass uns ein israelischer Kampfjet angreift.
Mein Bruder hat eine Wohnung für uns gemietet, aber es ist nicht leicht, das Geld dafür aufzubringen. In Kairo leben viele Kriegsflüchtlinge aus dem Sudan und viele Palästinenser, die wie wir aus dem Gazastreifen geflohen sind.
Sie alle brauchen eine Unterkunft und das treibt die Mieten in die Höhe. Viele Ägypter sind sehr hilfsbereit, aber einige nutzen die Not der Geflüchteten aus und verlangen viel zu viel Geld für Lebensmittel oder eine Unterkunft.
Wir führen ein Schattendasein. Wir bekommen in Ägypten keine Aufenthaltsgenehmigung, keine offiziellen Papiere, mit denen wir uns bei den Behörden registrieren könnten. Meine Kinder können deshalb nicht zur Schule gehen und das ist ein großes Problem. Ich muss vor Beginn des nächsten Schuljahres eine Lösung finden. Es ist wichtig, dass meine Kinder wieder lernen können, sie haben schon zu viel versäumt.
Die Hoffnung auf Rückkehr
Es ist ungewiss, wie es weitergeht. Die israelische Regierung führt diese massive Militäroperation durch, um zu zeigen, dass sie hart durchgreifen kann. Es geht ihr nicht darum, die israelischen Geiseln gesund nach Hause zu bringen und das Leben der palästinensischen Zivilisten zu schützen. Sie glaubt, wenn sie möglichst viele Palästinenser und Palästinenserinnen tötet, kann sie die Hamas in die Knie zwingen. Aber es ist offenkundig, dass sich die Hamas so nicht besiegen lässt.
Ich glaube, mit dem Krieg bezweckt Israels Regierung auch noch etwas anderes. Sie weiß, dass sie die Menschen nicht einfach aus Gaza vertreiben kann, das würden nicht einmal die USA zulassen. Deswegen verschlechtert sie die Lebensbedingungen so sehr, dass die Menschen aus eigenen Stücken den Gazastreifen verlassen. Die israelische Armee hat Gaza in ein unbewohnbares Trümmerfeld verwandelt, alles ist zerstört. Wer Kinder hat, wird über kurz oder lang versuchen, in ein anderes Land zu fliehen.
Wir sind einfache Leute und wir zahlen den Preis in diesem Konflikt. Seit Jahren ist das so. Immer, wenn wir geglaubt haben, dass die Lage in Gaza etwas stabiler und ruhiger ist, brach ein neuer Krieg aus. Unser Traum von einem normalen Leben wurde immer aufs Neue zerstört. Trotz allem versuche ich daran zu glauben, dass dieser furchtbare Krieg bald aufhört. Und wir eines Tages in unsere Heimat zurückkehren können."
Aufgezeichnet von Andrea Backhaus
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