Der Salafist und die Menschenrechtlerin
Eine blasse Frau sitzt vor einem beigen Vorhang, die blonden Locken sind zusammengebunden, die blauen Augen wirken müde. Es ist der 4. Dezember 2013, sechs Tage vor der Entführung, und das englischsprachige Video ist die womöglich letzte Botschaft von Razan Zeitouneh an die Welt. Ost-Ghouta, das östliche Umland von Damaskus, in dem sie inzwischen lebt, wird täglich bombardiert und ist seit Monaten komplett abgeriegelt. 23 Kinder sind bereits verhungert.
Das Schweigen der Welt angesichts der Verbrechen des Assad-Regimes ist für Zeitouneh so unerträglich wie für Yassin al-Haj Saleh, einen führenden Intellektuellen des Landes, der inzwischen in Istanbul lebt. Die beiden kennen sich seit langem und werden ab 2011 zu Leitfiguren der syrischen Revolution. Al-Haj Saleh empfindet nicht mehr nur Unverständnis und Wut, sondern regelrecht Verachtung für die Haltung des Westens. Amerikaner und Europäer hätten die syrische Opposition geschwächt und belogen, meint al-Haj Saleh, sie hätten die gemäßigten Rebellen mit leeren Versprechen hingehalten und dadurch die Islamisten gestärkt.
Eine Entwicklung ganz im Sinne des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad, der seinerseits alles dafür tut, um seine Gegner im Land – Aktivisten, Oppositionelle, Intellektuelle und Kritiker aller Konfessionen und Gesellschaftsgruppen – zum Schweigen zu bringen und sie mit dem Schreckgespenst des dschihadistischen Terrors zu ersetzen.
Ein Lehrstück für die verfehlte Syrienpolitik des Westens
Wer verstehen will, warum Assads Plan so gut aufgeht, muss sich nur die Vorgeschichte jener Entführung ansehen. Denn die Verschleppung der vier Aktivisten am 10. Dezember 2013 aus dem von Islamisten kontrollierten Umland von Damaskus ist ein Lehrstück für die kontraproduktive Syrienpolitik des Westens.
Diese Vorgeschichte beginnt im "stabilen" und "sicheren" Syrien des Baschar al-Assad, in das sich heute viele zurücksehnen ohne zu ahnen, wie sich staatliche Willkür, Überwachung und Folter schon damals anfühlen. Unter den Assads – Vater wie Sohn – wandert jeder allzu deutliche Kritiker des Regimes ins Gefängnis. Zwischen 2000 und 2011 sind fast alle namhaften Oppositionellen des Landes – Linke, Säkulare, Liberale – mehrere Jahre inhaftiert.
Razan Zeitouneh zählt zu dem Team von Anwälten, das sie vor Gericht vertritt – eine ehrenwerte aber sinnlose Tätigkeit, wie sie selbst einräumt. "Die Urteile stehen schon fest", sagt sie 2008 bei einem Prozess gegen zwölf bekannte Oppositionelle. Das seien politische Entscheidungen und keine fairen Gerichtsprozesse.
Da das Regime den politischen Islam und die Kurden am meisten fürchtet und diese international keine Fürsprecher haben, sind die meisten politischen Gefangenen in Syrien Islamisten, die wie die Kurden besonders schlecht behandelt werden. Zeitouneh verteidigt deshalb auch Salafisten und Al-Qaida-Anhänger – Menschen, deren Ansichten sie persönlich ablehnt. Doch schließlich hätten sie wie jeder Gefangene einen fairen Prozess verdient, sagt ein Kollege von damals, der anonym bleiben will.
Der religiöse Fundamentalist und die säkulare Menschenrechtlerin
Ein solcher Islamist ist Zahran Alloush, Sohn eines bekannten Predigers aus Douma, der an der Universität von Damaskus und in Saudi-Arabien islamisches Recht studiert und Anfang 2009 wegen salafistischer Aktivitäten verhaftet wird. Ob Alloush oder Mitglieder seiner Familie damals zu Zeitounehs Mandanten gehören, ist unklar – fest steht, dass die im Frühjahr 2011 beginnende syrische Revolution das Leben der beiden unter ganz anderen Umständen zusammenführen wird.
Der Gefangene und die Verteidigerin, der religiöse Fundamentalist und die säkulare Menschenrechtlerin tauschen Rollen. Nach den ersten friedlichen Protesten erklärt Präsident Assad seine Kritiker im Land zuTerroristen und Staatsfeinden. Razan Zeitouneh wird im syrischen Fernsehen als ausländische Agentin bezeichnet und muss untertauchen. Zahran Alloush wird dagegen im Juni 2011 aus dem Gefängnis entlassen, sammelt Geld und Anhänger und verübt ab Juli 2012 Anschläge in Damaskus. Für Baschar al-Assad ist Zeitouneh die Terroristin, nicht Alloush.
Zwei Jahre lang versteckt sich die Anwältin in verschiedenen Wohnungen, gibt CNN Interviews per Skype, beschreibt ihre Gedanken in der Wochenzeitung DIE ZEIT und postet auf Facebook die neuesten Nachrichten der Revolution. Zur gleichen Zeit sucht sich Alloush Finanziers in Saudi-Arabien und gründet die islamistische Brigade "Liwa al-Islam".
Doch die nicht-religiösen gemäßigten Rebellen haben noch die Oberhand. Ab Frühjahr 2012 vertreiben lokale Einheiten, die aus Deserteuren und Anwohnern bestehen und sich zur "Freien Syrischen Armee" zählen, das Regime aus Teilen des Nordens und Südens, aus dem Umland von Homs und Hama und aus den Vororten von Damaskus. "Es herrschte Aufbruchstimmung", erinnert sich Zeitounehs Kollege, der namentlich nicht genannt werden will. In Ost-Ghouta hätten kluge und verantwortungsvolle Leute das Sagen gehabt – politisch wie militärisch, so der Anwalt. "Die Atmosphäre war toll, wir planten den Aufbau von Gerichten und einer örtlichen Polizei.
"Diese Ahnung eines freien Syriens zieht auch Razan Zeitouneh an. Nach zwei Jahren im Untergrund und nachdem ihr Mann Wael Hamadeh zweimal verhaftet und vom Luftwaffengeheimdienst brutal gefoltert wurde, gehen die beiden im April 2013 nach Douma, wo die Anwältin das "Zentrum zur Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen" gründet.
In Douma trifft sie Yassin al-Haj Saleh wieder, intellektueller Ziehvater der Revolution, der das Leben im Untergrund genauso satt hat und in den Norden will, um dort effektiver für die Revolution wirken zu können. Al Haj-Salehs Frau Samira al-Khalil, eine langjährige Oppositionelle, ehemalige politische Gefangene und Alawitin, beschließt, später nachzukommen und zunächst Zeitouneh beim Aufbau zweier Frauenzentren zu helfen.
Nischen der Freiheit
Wo das Regime vertrieben ist, atmen die Menschen Freiheit. Es werden Lehrpläne umgeschrieben, Stadträte gewählt, Zeitungen herausgegeben und Kulturzentren aufgebaut – alles Entwicklungen, die sich der Westen wünscht, aber nicht unterstützt. Dabei ist spätestens seit den ersten massiven Bombenangriffen auf Wohngebiete in Homs im Februar 2012 klar, dass Assad zum eigenen Machterhalt alle ihm zur Verfügung stehenden Waffen einsetzen würde.
Das Argument, wir wüssten nicht, wer in Syrien gegen wen kämpfe, ist 2012 eine feige Ausrede. Syrische Islamisten wie Alloush sind erst dabei sich zu organisieren, ausländische Dschihadisten sind nur sehr vereinzelt im Land. Statt die vielen verschiedenen örtlichen Rebellengruppen mit Geld, Training und Waffen zu einer alternativen syrischen Armee aufzubauen, lässt man sie untereinander um den Nachschub streiten.
Manche werden korrupt und kriminell, erpressen Geld oder verkaufen Mehl, um an Waffen zu kommen. Schließlich brauchen sie mindestens eine Kalaschnikow, um den Scharfschützen und Panzern des Regimes entgegentreten zu können – gegen die Raketen der Kampfjets und Fassbomben der Helikopter haben sie ohnehin keine Chance.
Zeitouneh kritisiert dieses Verhalten der Rebellen. "Wir dürfen nicht zu dem werden, was wir bekämpfen", fordert sie, aber angesichts der Brutalität und Übermacht des Regimes wird es immer schwieriger, die eigenen Prinzipien hochzuhalten.
Der Aufstieg der Islamisten
In dieser Situation tauchen Islamisten wie Zahran Alloush auf und haben leichtes Spiel. Dank ihrer Unterstützer in der Türkei, in Saudi-Arabien, Qatar und anderen Golfstaaten können sie vielerorts als Wohltäter auftreten. Sie kaufen das Mehl von der "Freien Syrischen Armee", backen Brot und verteilen es an die Bevölkerung, sie unterstützen arme Familien, gelten als rechtschaffen und nicht korrupt und sind aufgrund ihrer besseren Ausstattung und Disziplin militärisch erfolgreicher – auch gegen den vorrückenden Islamischen Staat (IS).
Alloush etabliert sich mit der "Liwa"-Brigade in seiner alten Heimat Ost-Ghouta, wo er auf ein persönliches Netzwerk aus Kindheitstagen zurückgreifen kann. Ende September 2013 schließen sich dort mehr als 40 verschiedene Brigaden zur "Armee des Islam" zusammen. Zahran Alloush wird ihr Anführer, Douma ihr Zentrum. Der islamistische Rebellenführer und die säkulare Aktivistin haben sich für ihren Kampf gegen Assad den gleichen Ort ausgesucht, kämpfen aber für sehr unterschiedliche Visionen eines freien Syriens.
Zeitounehs Aktivitäten sind Alloush ein Dorn im Auge. Nicht nur, dass das Dokumentationszentrum Verbrechen aller Kriegsparteien dokumentiert. Zeitouneh und ihr Team bauen zivile Strukturen und eine lokale Selbstverwaltung auf, was den Herrschaftsanspruch der Armee des Islam untergräbt. Hartnäckig habe sie sich außerdem geweigert, ein Kopftuch zu tragen, erinnert sich ihr Anwaltskollege von früher. Alles Gründe, Zeitouneh und die anderen loszuwerden, meint er.
Yassin al-Haj Saleh nutzt am 10. Juli 2013 eine Gelegenheit zur Flucht. Er fährt in seine Heimatstadt Raqqa, wo sich gerade der "Islamische Staat" (IS) einrichtet. Zwei Brüder werden verhaftet, einer kommt nach fünf Wochen frei, der andere ist bis heute in den Händen der Terroristen. Der Intellektuelle flieht weiter Richtung Norden und im Oktober 2013 schließlich in die Türkei.
Giftgas gegen Zivilisten
In den östlichen Vororten von Damaskus überschlagen sich indes die Ereignisse. Zuerst kommt das Giftgas – am 21. August sterben mehr als 1.000 Menschen durch Assads Sarin. Die Welt ist schockiert. Und stellt Assad Ende September einen Freibrief zum Töten aus. Denn UN-Resolution 2118 impliziert: Wenn Assad seine Chemiewaffen abgibt, darf er weitermorden wie er will. So zumindest verstehen es Aktivisten wie Zeitouneh, die an jenem Tag im August die Leichen in den Straßen gesehen und die Schreie der Mütter gehört hat, als sie ihre Kinder darunter fanden.
Und so versteht es auch Baschar al-Assad, der im Oktober Ost-Ghouta komplett abriegeln und täglich bombardieren lässt. Er will die seit fast zwei Jahren von Rebellen gehaltenen Vororte der Hauptstadt zurückerobern – koste es was es wolle. Den Westen kümmert das nicht, Hauptsache Assad legt pünktlich seine Chemiewaffen-Liste vor.
Menschen wie Razan Zeitouneh und Yassin al-Haj Saleh verlieren darüber ihren Glauben an die Vereinten Nationen. Für die Syrer würden die grundlegenden Prinzipien der Menschenrechte offenbar nicht gelten, schreibt die Anwältin Anfang Dezember 2013, denn "Assad, der wahre Kriminelle", sei weiterhin frei und niemanden interessiere es.
Was würde Zeitouneh heute sagen, wenn sie wüsste, dass Assads Vernichtungskrieg inzwischen nicht nur geduldet, sondern sogar belohnt wird? Dass er zum Partner im Kampf gegen den von ihm genährten IS wird und dass seine Strategie des Aushungerns ganzer Stadtteile, mit der er die Bewohner zur Kapitulation zwingt, zu einem UN-Plan für lokale Waffenstillstände geführt hat?
Wir wissen es nicht, denn am 10. Dezember 2013 überfallen Unbekannte die Räume des Dokumentationszentrums in Douma und entführen Zeitouneh, ihren Mann Wael Hamadeh, den Anwalt und Dichter Nazem Hammadi und Samira al-Khalil, die Frau von al-Haj Saleh. Als örtlicher Machthaber steht Zahran Alloush unter Verdacht, er beteuert jedoch mehrfach, nichts mit der Entführung zu tun zu haben. Al-Haj Saleh glaubt ihm nicht. "Wer immer das getan hat, hat im Auftrag oder mit dem Wissen und Einverständnis der 'Armee des Islam' gehandelt", sagt er. Alloush entgehe in Douma keine Bewegung.
Zwei Formen von Faschismus
Angehörige, Aktivisten und Politiker weltweit setzen sich für die vier ein, vergeblich. Weil niemand Forderungen gestellt hat und es keine Spur gibt, befürchtet al-Haj Saleh, dass seine Frau und ihre Freunde nicht mehr leben. Umso wichtiger wäre das Vermächtnis, das sie hinterlassen. Zeitouneh, in Europa mit Preisen überschüttet, hat den Westen immer wieder für seine Tatenlosigkeit in Syrien verurteilt. Und Yassin al-Haj Saleh hat die USA und Europa inzwischen abgeschrieben.
Für ihn ist das Assad-Regime noch immer "das größte Monster" in Syrien – und das, obwohl der IS seine Heimatstadt Raqqa terrorisiert und seinen Bruder gefangen hält. Der Intellektuelle sieht jetzt zwei Formen von Faschismus am Werk – die "Krawattenträger des Baschar al-Assad" und die "Bärtigen des Abu Bakr al-Baghdadi". Leider habe der Westen nur ein Problem mit den Bärtigen, sagt al-Haj Saleh. "Wir wollen, dass die internationale Gemeinschaft mit uns gegen den Faschismus aufsteht und nicht mit den einen Faschisten gegen die anderen kämpft."
Appelle seien nutzlos geworden, schrieb Zeitouneh bereits vor einem Jahr. "Es ist, als ob eine dicke Mauer alle Hilferufe an den 'zivilisierten' Westen zurückhalten würde. Der Westen verschließt Augen und Ohren gegenüber den Wünschen und Hoffnungen der SyrerInnen, die so viel in diese Revolution investiert haben." Um an das Schicksal der vier entführten Aktivisten zu erinnern, hat die Heinrich-Böll-Stiftung sie jetzt mit dem Petra-Kelly-Preis geehrt. Noch wichtiger wäre, ihre Botschaften endlich zu erhören.
Kristin Helberg
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