Offene Fenster und ein verdientes Kalifat
Draußen patrouillieren Soldaten. Schwer Bewaffnet, in grünen Uniformen. Sind es Truppen des Assad-Regimes? Rebellen? Ein glänzendes Auto ist durch den Spalt zu sehen, der den Blick auf die Straße freigibt. Sie ist befahrbar, trotz des Ausnahmezustands. Wer blickt hier aus der Fensteröffnung? Was verbirgt sich im Innern des Raums?
Das kleine Foto ziert die Rückseite des neuen Sammelbands "Innenansichten aus Syrien". Nicht Experten oder Kriegsreporter lässt Herausgeberin Larissa Bender zu Wort kommen; es sind Syrer und Syrerinnen selbst, die in "Innenansichten" das Wort ergreifen - mal erklärend, mal berichtend, meist aber nachdenklich bis philosophisch. Ansichten von innen, nach innen.
"Ich habe aufgehört zu fragen, was morgen passiert"
"Allmorgendlich beginnt meine Wohnung zu zittern; den ganzen Sommer über blieben die Fenster geöffnet, damit die Scheiben nicht zerbarsten“, schreibt der Schriftsteller Khaled Khalifa. Er ist einer der Intellektuellen, die im Land geblieben sind. "Ich treffe mich mit den Freunden, die noch da sind", erzählt er, "und deren Anzahl die Finger einer Hand kaum überschreitet."
Khalifa hat keine Kraft mehr: "Ich habe aufgehört zu fragen, was morgen passiert. Alles wird sich wiederholen, das Bombardement wird auch morgen nicht aufhören, die Sirenen der Krankenwagen werden nicht verstummen, die Schüsse gehören wie selbstverständlich zum Himmel über der Stadt."
In diese Gewohnheit mischt sich Enttäuschung - darüber, dass sich auch die Weltgemeinschaft an das Blutvergießen in Syrien gewöhnt hat, nichts tut als zuzugucken. "Ich nehme Reißaus vor den Journalisten, die stundenlang mit uns reden wollen", schreibt Khalifa, "und am Ende doch nur schreiben, was ihr Gewissen beruhigt, nämlich, dass dieses Sterben sie nichts angeht."
Mal ist es Resignation, die aus den Worten der Autoren spricht, wenn sie das Gefühl des Alleingelassenseins schildern, oft aber auch Zorn und Wut. Der Schriftsteller Fawwaz Haddad schreibt: "Die Syrer wurden betrogen. (…) Eine Regierung nach der anderen lässt den krisengeschüttelten syrischen Freund im Stich, obwohl die Freundschaft im Licht internationaler Konferenzen geschlossen und im Namen der 'Freunde Syriens' seliggesprochen wurde."
Noch einen Schritt weiter geht der Philosoph Sadik J. Al-Azm: "Das jetzt errichtete Kalifat", sagt er in einem Interview, das Bender in den Band mit aufgenommen hat, "ist die verdiente Antwort auf diese westliche Realpolitik."
Who's who der syrischen Literaturszene
Neben der Enttäuschung kehrt ein weiteres Thema immer und immer wieder: die Brutalität des Assad-Regimes. Erst der Extremismus des Regimes, argumentiert Al-Azm, habe die syrische Revolution in Richtung eines militärischen Aufstands gedrängt. "Aus einer bürgerlichen Protestbewegung wurde so ein militärisch geprägter Aufstand."
Ein anderer Autor erinnert daran, dass die Brutalität nicht neu ist: "In den letzten vier Jahrzehnten war Syrien ein großes Gefängnis. Seitdem die Baath-Partei 1970 mit der Machtergreifung von Hafis Al-Assad ihre Herrschaft festigte, kann man Syrien (...) als eine der brutalsten Diktaturen der heutigen Zeit bezeichnen", schreibt Mohammad Al Attar, Autor des Theaterstücks "Und jetzt bitte direkt in die Kamera“ und einer der bekanntesten Nachwuchsdramatiker des Landes.
Überhaupt liest sich "Innenansichten" wie ein Who's who der syrischen Literatur- und Kunstszene. Vor lauter Texten verliert der Leser auf den fast 300 Seiten allerdings schnell den Überblick. Ungeordnet reihen sich die knapp vierzig Beiträge aneinander. Da folgt ein Künstlerinterview auf die Übersicht zum Bildungssystem, der Erfahrungsbericht eines Journalisten auf ein Gefangenenporträt.
Und warum fordert mit "Taten statt Worte" dann doch irgendwann eine deutsche Politikwissenschaftlerin (wenn auch in einem lesenswerten Beitrag) eine begrenzte Militärintervention – in einem Band namens "Innenansichten aus Syrien"?
Offene Ohren für alle
Das Buch, schreibt Larissa Bender einleitend, wolle den Konflikt nicht erklären, analysieren oder nach Lösungsansätzen suchen, sondern "aus syrischer Perspektive zeigen, wie die Menschen die Zerstörung ihrer Heimat erleben." Dabei lässt sie keinen Zweifel daran, wer schuldig und wer unschuldig ist.
Im Vorwort stellt sie klar: "Es ist die Politik des Regimes und seiner Unterstützer, die diese katastrophale Situation herbeigeführt hat." Damit scheint alles gesagt zu sein, die Grenze zwischen Gut und Böse ist abgesteckt - und das erklärt, warum die Auswahl der Beiträge leider einseitig bleibt.
Mit welchem Argument hören wir nicht jenen Syrern zu, die der Revolution (wie es im Band fast durchgängig heißt) kritisch gegenüberstehen? Drusen, die Angst haben vor der Ausbreitung eines radikal-sunnitischen Islams? Mittelständler, die sich von Assad einen Rest an Stabilität versprechen? Alawiten, die Angst haben vor einer kollektiven Bestrafung, sollte der Diktator endgültig die Macht verlieren?
Ihnen allen keinen Raum zu geben, weil sie die Herrschaft des Kriegsverbrechers Assad nicht offen ablehnen, ist moralistisch. Wer "den Menschen in Syrien zuhören" und deren Ängste ernst nehmen will, muss auch für die vielen Syrer offene Ohren haben, die sich nicht so klar auf Seiten der säkularen Opposition positionieren wie die Autoren dieses Bandes – dies auch im Lichte dessen, dass viele von ihnen unter uns in Deutschland leben, auch wenn ihre Stimmen hier kaum gehört werden. Nicht nur säkulare und oppositionelle Syrer sind ins Ausland geflohen.
Ein lesenswerter Einblick in das Leben im syrischen Bürgerkrieg ist "Innenansichten" trotzdem. Die meist von der Herausgeberin selbst mit spürbar viel Sorgfalt übersetzten Beiträge gehen weit über die Gewalt, das Sterben und die politische Diskussion hinaus. Sie zeigen das Menschliche, das Alltägliche in einem Konflikt, für dessen Hauptakteure Humanität schon lang ein Fremdwort geworden zu sein scheint.
Jannis Hagmann
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