Aufarbeitung eines Traumas
Eines Tages rutscht es ihrer Tante einfach heraus: Maryam Zaree hat nicht in einem normalen Krankenhaus das Licht der Welt erblickt; sie wurde 1983 in Gefangenschaft geboren. Die Tante sagt, sie sei damals entsetzt gewesen, als sie merkte, dass das Mädchen dies nicht wusste.
Sie dachte, die Eltern hätten der Zwölfjährigen längst erklärt, dass sie in Evin, einem der berüchtigtsten Gefängnisse für politische Gefangene im Iran, zur Welt kam. Aber dies war nicht der Fall. Und auch nach diesem Zeitpunkt kommt es nicht zu klärenden Gesprächen oder zu einer gemeinsamen Aufarbeitung der Familiengeschichte.
Die Geschichte beginnt, als sich Zarees Eltern im Iran kennenlernen. Sie hören John Lennon, lesen Karl Marx und sind gegen den Schah und die Monarchie, in der sie aufgewachsen sind.
Doch mit der Islamischen Revolution 1979 wird ein Diktator durch den nächsten ersetzt, und sie werden zu Feinden des neuen Mullah-Regimes erklärt. 1983 werden die beiden verhaftet - und ebenfalls Maryam Zaree als Fötus im Bauch ihrer Mutter.
Als Baby hinter Gittern
Hier tut sich das große schwarze Loch auf, das die junge Frau in ihrem Dokumentarfilm-Debüt "Born in Evin" penibel versucht zu stopfen. Denn in der Familie wurde über das Thema nie gesprochen. Nicht als Mutter und Tochter das Gefängnis verlassen durften und nach Deutschland flohen. Und auch nicht, als der Vater nach sieben Jahren, in denen er auf die Todesstrafe wartete, frei kam. Er hatte das Massaker an den politischen Gefangenen, bei dem 1988 tausende Menschen hingerichtet wurden, überlebt.
Das Schweigen hörte auch nicht auf, als Zarees Mutter - inzwischen promovierte Psychologin und Kommunalpolitikerin - für das Bürgermeisteramt ihrer Stadt Frankfurt kandidierte und Zaree selbst zu einer in Deutschland und Europa erfolgreichen Schauspielerin wurde. Und es geht auch weiter, nachdem Zaree ihrer Mutter im Sommerurlaub einen Trailer zu einem Film präsentierte: dem Versuch einer filmischen Aufarbeitung.
Koransuren als Folter
Dass sie tief in sich etwas von dem Grauen des berüchtigten Folter-Gefängnisses trägt, bemerkte Zaree auf einer Busfahrt durch Marokko: Plötzlich hält sie die Musik, die im Bus läuft nicht mehr aus. Sie fängt an zu schwitzen, wird panisch, glaubt den Verstand zu verlieren und schreit schließlich den Fahrer an, die Musik auszuschalten.
Erst später berichtete sie ihrem Vater von der Panikattacke, die sie sich nicht erklären konnte. Er erzählte ihr, dass Häftlinge in Evin mit der Endlosschleife von Koransuren, die wohl ebenfalls im Bus liefen, akustisch gefoltert wurden. Eine Erfahrung, die sie als Kleinkind machte, hatte es geschafft, sich in ihr Inneres einzugraben.
In ihrem Film sucht Zaree nach weiteren Kindern politischer Gefangener, um zu erfahren, wie sie mit dem erlebten Trauma umgehen - dem eigenen und dem der Eltern. Dabei trifft sie unter anderem die Autorin Sahar Delíjaní, die ebenfalls als Kind politischer Aktivisten im Teheraner Evin-Gefängnis geboren wurde und das Buch "Kinder des Jacarandabaums" über diese Erfahrungen geschrieben hat.
Eine neue Generation
Mayam Zaree begegnet auch der iranisch-französischen Anthropologin Chowra Makaremi. Sie war acht Jahre alt, als ihre Mutter hingerichtet wurde. Ihr Großvater hat aufgeschrieben, was der Mutter angetan wurde: Die Wirbelsäule war gebrochen, sie hatte Verbrennungen an mehreren Körperstellen, ihre Intimzone war mit kochendem Wasser verbrüht worden, man hatte sie an den Füßen aufgehängt und Drähte für Elektroschocks um ihre Brüste gebunden.
1992 trug Chowra Makaremi diese Zeilen ihres Großvaters vor dem sogenannten Iran-Tribunal in Den Haag vor, einem symbolischen Volksgerichtshof zur Untersuchung der staatlich angeordneten Gewalttaten im Iran in den 1980er Jahren.
Im Gespräch entdecken die beiden Frauen, dass sie mehr gemeinsam haben als sie denken: als Kinder unterdrückter Oppositioneller im Ausland wurden sie zu erfolgreichen und verantwortungsbewussten Erwachsenen gemacht - quasi als Beweis für die Richtigkeit der Ideale ihrer Eltern. Und man sieht, wie ihnen beiden die Stimme versagt. Zu wahr ist diese Analyse.
Schonungslose Nähe
Zaree schont sich im Film generell nicht. Die Kamera ist dabei, wenn ihr Vater als Manifestation der Verdrängung ein Handtuch aus dem Bettkasten hervorholt, das er seit über 30 Jahren verwahrt: Es stammt aus dem Evin-Gefängnis. Seine Vorbesitzer waren zwei seiner Mitinsassen. Beide waren 29 Jahre alt, als sie gehängt wurden. Danach ist es in seinen Besitz übergegangen.
Schmerzlich lange sind teils die Szenen zu sehen, in denen sich Zaree bis zur Verzweiflung ihren größten Ängsten aussetzt, ihre Mutter schließlich mit ihren Fragen zu dem schwarzen Loch der Familiengeschichte konfrontiert.
Dabei ist "Born in Evin" kein Selbstfindungstrip, in dem es ausschließlich um eine Familie geht. Erst wollte sie sogar überhaupt nicht im Film vorkommen, sagt Zaree: "Es war ein schmaler Grat: Ich habe die Fähigkeiten einer Schauspielerin, aber möchte hier etwas sehr Realistisches und Authentisches zeigen. Aber dann wurde mir klar, dass ich mich damit letztendlich selbst verleugne, wenn ich nicht Teil des Films bin. Wenn ich einen Film über Verdrängung drehen will, der die Strukturen und Dynamiken von Verdrängung aufbrechen möchte, dann kann ich das nicht fortführen und so tun, als hätte das nichts mit mir zu tun."
Der Film zeigt, was passiert, wenn eine institutionelle Aufarbeitung eines nationalen Traumas ausbleibt. Das Regime im Iran will nichts von einer Aufarbeitung der Morde wissen. Bis heute weiß man nicht, wie viele Menschen in den 1980er Jahren hingerichtet wurden. Bei der Präsidentschaftswahl 2017 ist mit Ebrahim Raisi ein Kandidat angetreten, der Teil der Kommission war, die bei den Massakern 1988 über die Hinrichtungen entschieden hat.
"Born in Evin" wirft die Frage auf, welche Narrative die Kinder-Generation im Exil schaffen kann, wie sie sich positioniert und die Geschichte weitergibt - und schafft damit ganz nebenbei einen Bogen zu heutigen Flüchtlingsschicksalen.
Die Arbeit geht weiter
Für Zaree ist es bereits der dritte Teil der künstlerischen Auseinandersetzung mit diesem Thema: Sie hat schon ein preisgekröntes Theaterstück zum Thema Sprachlosigkeit und Verdrängung geschrieben und in einem autobiografischen Projekt des Berliner Gorki Theaters mitgewirkt.
Für ihren Debütfilm hat sie rund vier Jahre investiert. Allerdings nicht in Vollzeit. Bei der diesjährigen Berlinale, bei der "Born in Evin" in der Sektion Perspektive Deutsches Kino Premiere feierte, war sie gleich in drei Produktionen involviert.
Nun will sie sich erst einmal ein bisschen Raum zum Durchatmen gönnen. Allerdings hat sie für den Sommer bereits eine Einladung für das International Playwrights' Programme des Royal Court Theatre in London und ein paar Schauspiel-Engagements. Wie erfolgreiche und verantwortungsbewusste Erwachsene eben so planen. Als sie das anmerkt, muss sie selbst lachen.
Laura Döing
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