Dunkelhäutige unter Generalverdacht
Der Rücken des alten Mütterchens krümmt sich unter einem Bündel Feuerholz. Ihr zehnjähriger Enkel, der neben ihr herläuft, balanciert einen Kanister Wasser auf dem Kopf. Die beiden Flüchtlinge sind auf dem Weg zurück in ihr nach Bab al-Aziziya, der zerstörten Festung des getöteten Diktators Muammar Gaddafi, ihr neues Zuhause.
Sechs Hektar Schutt und Asche ist alles, was Nato-Bomben und Rebellenpanzer von der "Festung der Macht" zurückgelassen haben, um die Libyer jahrzehntelang einen weiten Bogen machten. Heute hausen hier anstelle von Elitesoldaten und Scharfschützen etwa ein Dutzend dunkelhäutige Flüchtlingsfamilien.
Die Nächte verbringen sie in den kahlen Räumen einer ehemaligen Kaserne. Es ist das einzige Gebäude in Bab al-Aziziya, das den Sturm der Rebellen auf die Festung am 23. August 2011 ohne größere Schäden überstanden hat. Viele der Flüchtlinge trauen sich auch tagsüber nicht, die Anlage zu verlassen. Tagelang sind sie während des Bürgerkrieges von ihrem Heimatort Tawerga durch die Wüste nach Tripolis geflohen. Die Angst ist ihnen gefolgt.
"Wir leben wie Tiere"
"Wir leben hier wie Tiere. Trotzdem wollen sie uns umbringen", schimpft das Mütterchen mit dem Feuerholz. Sie, das sind die Rebellenmilizen aus dem 200 Kilometer östlich von Tripolis gelegenen Misrata.
Während der blutigen Revolution machten sich die Widerstandskämpfer der Hafenstadt einen Namen als besonders tapfere Gegner Gaddafis. Seither jedoch geraten sie immer wieder in die Negativschlagzeilen, weil sie Flüchtlinge aus Tawerga überfallen, entführen, foltern.
Flüchtlinge wie Faradsch Mohammed, 24 Jahre alt, bis zur Revolution Medizinstudent. Vor einigen Monaten bekamen ihn Kämpfer aus Misrata zu fassen, als er in einem Außenbezirk von Tripolis unterwegs war. Die Entführer hielten ihn wochenlang in einem Kellerloch gefangen und folterten ihn mit Elektrokabeln, erzählt Mohammed und zeigt seine Narben: "Sie haben mich beschuldigt, Gaddafi zu unterstützen. Jemand muss diesen Rebellen mitteilen, dass der Krieg vorbei ist."
Vom Paradies zur Geisterstadt
Dunkelhäutige sind die großen Verlierer der libyschen Revolution. Vielerorts müssen sie als Sündenböcke für die Verbrechen afrikanischer Legionäre herhalten, die in Gaddafis Privatarmee anheuerten und während des Bürgerkriegs seine gefürchtetsten Einsatztrupps bildeten. Mehr als eine Million Menschen aus den Sahelstaaten und Westafrika schlugen sich vor Ausbruch der politischen Unruhen im Frühjahr 2011 in Libyen als Tagelöhner durch. Nun sollen es deutlich weniger sein. Viele sind zurückgekehrt in ihre Herkunftsländer.
Faradsch Mohammed hat diese Option nicht. Seine Heimat ist Libyen, hier ist er geboren. Der Student gehört zum Stamm der Tawerga, Nachkommen afrikanischer Sklaven, die bis zum Bürgerkrieg die gleichnamige Oase am Golf von Sirte besiedelten. Dattelpalmen, Obstplantagen, große Grundwasserreserven: für seine Bewohner war Tawerga ein Paradies.
Heute ist der Ort eine Geisterstadt. Die Wohnhäuser haben Rebellen aus Misrata mit Panzern plattgewalzt, die Palmen abgefackelt. Selbst die im Jahr 2010 eröffnete Universität liegt in Trümmern. Das Ortsschild auf der nahen Schnellstrasse ist durchgestrichen.
"Wie könnten wir nicht Rache üben?"
Noch am Vorabend der Revolution sollen die Beziehungen zwischen Misrata und den weniger als eine Autostunde südlich gelegenen Tawerga friedlich gewesen sein. Dann fielen Gaddafis Söldner über Misrata her. Mehrere Tausend Personen sollen bei der monatelangen Belagerung ihr Leben verloren haben. Große Teile der Hafenstadt sind noch immer schwer vom Krieg gezeichnet. Dafür machen die Rebellen auch die Bewohner Tawergas verantwortlich. Diese sollen Gaddafis Soldaten Unterschlupf gewährt haben.
Außerdem, so heißt es, hätten sie sich an den Kriegsverbrechen der Gaddafi-Söldner beteiligt. "Die Männer aus Tawerga haben sich an unseren Frauen vergangen. Wie könnten wir da nicht Rache üben?", fragt Ali, ein junges Mitglieder der Miliz "die Adler Misratas".
Die Anschuldigungen lassen sich kaum überprüfen. Fest steht, dass die Misrata-Milizen seither eine Hetzjagd auf die Bewohner Tawergas eröffnet haben. "Tawerga gibt es nicht mehr, nur noch Misrata", verkündete ein Rebellengeneral bereits im vergangenen Jahr gegenüber dem Sunday Telegraph. Selbst in der Hauptstadt Tripolis sind die Vertriebenen nicht sicher. Immer wieder stürmen Milizionäre auf der Suche nach jungen Männern Flüchtlingscamps. Vor einigen Monaten kamen bei einem solchen Überfall mehrere Frauen und Kinder ums Leben.
Etwa 1.300 der insgesamt 42.000 Bewohner Tawergas gelten als vermisst, sagt Abdulrahman Schakschak, Leiter eines von der UN-geführten Flüchtlingscamps in Tripolis. Die meisten dieser Personen vermutet er in Foltergefängnissen in Misrata. Auch andere dunkelhäutige Flüchtlinge und Gastarbeiter, viele von ihnen aus dem Ausland, gerieten immer wieder ins Visier der ehemaligen Widerstandskämpfer, so Schakschak.
Regierung in der Kritik
Seit August stellt die neue Interimsregierung Soldaten, die einige der Camps in der Hauptstadt bewachen. Auf Rechtsbeistand warten die Flüchtlinge jedoch noch immer. "Wir werden kollektiv für die Fehler einiger weniger bestraft", klagt Faradsch Mohammed. Die Regierung zeige zudem kein Interesse an einem Versöhnungsprozess, wie ihn Stammesälteste aus Tawerga vorgeschlagen hätten.
Auch in Misrata hält man den Behörden Versagen vor. Eine Liste mit 3.000 gesuchten Personen aus Tawerga will der dortige Geheimdienstchef der Regierung in Tripolis bereits vor Monaten vorgelegt haben. Auf eine Reaktion warte er noch immer. So lange sie keine Antwort aus der Hauptstadt erhalten, wollen die Milizkämpfer Misratas weiterhin das Recht in die eigene Hand nehmen.
Markus Symank
© Qantara.de 2013
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de