Elternschaft inmitten der Zerstörung

Kinder, die zwischen Trümmerhaufen umherirren.
Kinder inmitten der Trümmer nach einem israelischen Angriff, April 2025. (Foto: Picture Alliance/NurPhoto | M. Fathi)

Israels Krieg gegen Gaza hat Zehntausende von Kindern zu Waisen gemacht. Angesichts der verheerenden Situation kümmern sich Paare, die selbst keine Kinder bekommen können, um überlebende Kinder und erleben zum ersten Mal Elternschaft.

Von Doaa Shaheen

Sonnenlicht fällt sanft durch die hauchdünnen Vorhänge eines kleinen Kinderzimmers in einem verwüsteten Viertel in Gaza-Stadt und erhellt das Gesicht von Iman, die liebevoll auf den Säugling in ihren Armen schaut. Ihre zitternden Finger streicheln die weichen Wangen des Babys. Ihr Mann Rami sitzt neben ihr und beobachtet die neue Tochter, die sich anscheinend schnell an die Wärme einer Familie gewöhnt. Iman und Rami haben lange auf sie gewartet.

Über zwei Jahrzehnte lebten Rami Al-Aruqi (47) und seine Frau Iman (45) in quälender Einsamkeit. Diese vertiefte sich jedes Mal, wenn ein weiterer Arzt ihre Unfähigkeit bestätigte, ein Kind zu zeugen. Inmitten der Brutalität des Krieges gegen Gaza erhielten sie ein unerwartetes Geschenk: ein kleines Mädchen, das sie ihr eigenes nennen können. Es wurde zwischen den Trümmern gefunden, ohne Familie, ohne Namen, ohne jemanden, der es hält.

Das Paar beschloss, das Mädchen über ein in ganz Gaza bekanntes Pflegschafts-Programm aufzunehmen. „Ich weiß nichts über sie, außer dass sie unter Trümmern eingeschlossen war und überlebt hat“, erzählt Rami gegenüber Qantara. „Die Sanitäter fanden sie weinend in den Resten des Balkons eines zerbombten Wohnhauses.“ Das Kind wurde dem Ministerium für soziale Entwicklung übergeben, welches es dann in die Obhut der Al-Aruqis gab. Sie nannten sie Jannah — Arabisch für Paradies.

Sobald er sie in seinen Armen hielt, spürte Rami eine Verwandtschaft mit ihr, als hätten sie aufeinander gewartet. „Ich habe immer von den Kindern gehört, die Massaker überlebt und keine Familie mehr haben — keinen Vater, keine Mutter, überhaupt niemanden“, berichtet Rami, der mit Verwandten in einer Wohnung lebt, seit sein Zuhause im Bezirk Al-Nasr in Gaza-Stadt zerstört wurde. Diese Realität von Kindern in Gaza hat in ihm ein tiefes Gefühl nationaler und menschlicher Verantwortung geweckt, er beschloss, ein überlebendes Kind aufzunehmen.

Ein Mann sitzt mit einem kleinen Mädchen im Arm. Eine lächelnde Frau steht hinter ihm.
Rami und seine Frau Iman fanden ihr Glück schließlich in der kleinen Janna, die allein in den Trümmern gefunden wurde. (Foto: Privat)

Rami wandte sich zunächst direkt an Krankenhäuser, bis ihn eine Ärztin darauf hinwies, dass es möglich sei, über das Ministerium für soziale Entwicklung Kinder in Pflege zu nehmen. „Sie erzählte mir Jannahs Geschichte, und das brachte mich dazu, sie aufzunehmen. Es fühlte sich an, als sei sie unser Kind“, erinnert er sich. Die Vorstellung, inmitten der schlimmen Zustände in Gaza ein Baby zu betreuen, war jedoch auch beängstigend. Rami weist auf die unzähligen Herausforderungen hin, vor allem den Mangel an Kleinkindbedarf wie Milch, Windeln und Kleidung.

Doch Iman, die sich zutiefst nach der Erfahrung von Mutterschaft gesehnt hatte, ist fest entschlossen, alle Bedürfnisse der kleinen Jannah zu befriedigen. „Ich habe sie zwar nicht im Mutterleib getragen, aber ich habe sie vom ersten Augenblick in mein Herz geschlossen. Sie ist jetzt meine Tochter, in jeglicher Hinsicht“, sagt sie. Seitdem haben sich die einst kalten und leeren Tage des Paares in etwas verwandelt, das jannah selbst ähnelt – erfüllt vom Glucksen eines Babys, dem Geruch von Milch und der Wärme neu gewonnener Elternschaft.

Wachsender Zuspruch für Pflegeelternschaft

Die Geschichte von Rami und Iman ist kein Einzelfall. Zahlreiche Paare, die jahrelang keine Kinder bekommen konnten, nehmen nun Kinder bei sich auf, die durch den Krieg zu Waisen geworden sind. Die Zerstörung hat zu Veränderungen in der gesellschaftlichen Einstellung gegenüber Kinderpflegschaft beigetragen.

Nach Angaben des Palästinensischen Zentralbüros für Statistik haben seit dem 7. Oktober 2023 über 39.000 Kinder in Gaza Elternteile verloren, darunter über 17.000 Kinder, die beide Eltern verloren haben. Die meisten von ihnen leben jetzt bei Verwandten. 

Hala Atallah, Leiterin des Pflegschafts-Programms in Gazas Ministerium für soziale Entwicklung, erklärt gegenüber Qantara, dass das Ministerium derzeit nur 18 überlebende Kleinkinder betreue, die ihre Familien verloren haben und deren Angehörige nicht ausfindig gemacht werden konnten. Sie fügt hinzu, dass dutzende weitere Kinder bei Familien seien, welche sie in zerbombten Orten gefunden hätten — Familien, die das Ministerium aufgrund anhaltender Luftangriffe, eingeschränkter Mobilität und wiederholter Vertreibung sowie der Beschädigung von Einrichtungen des Ministeriums nicht erreichen könne.

Atallah unterstreicht, dass der Krieg zu einem deutlich gestiegenen Interesse an der Aufnahme von Waisenkindern geführt habe, das Ministerium erhalte weiterhin Dutzende von Anfragen von Gaza-Bewohner:innen zum Prozess der Pflegeelternschaft. Unter den Interessent:innen sind Sami Badwan (38) und seine Frau Schirin (36), die nach ihrer Verteibung in einer Notunterkunft in Deir al-Balah leben. Ihre Nachbarn fanden einen kleinen Jungen, der gerettet wurde, nachdem ein Luftangriff das Haus seiner Familie im Stadtteil Al-Zeitoun in Gaza-Stadt zerstört hatte.

Eine Frau steht vor einem Kleiderschrank und hält einen Baby-Body in den Händen.
Schirin Badwan bereitet sich in ihrer Wohnung in Gaza-Stadt auf die Ankunft ihres neuen Sohnes vor, 25. Februar 2025. (Foto: Doaa Shaheen)

Der erst fünf Monate alte Säugling weinte unaufhörlich, bis Schirin ihn in ihre Arme nahm. Er beruhigte sich sofort. Sie brachte es nicht über sich, ihn gehen zu lassen. Das Paar beantragte, ihn betreuen zu dürfen, in der Hoffnung, ihm Liebe und Fürsorge geben zu können — auch wenn er nicht von Geburt an ihren Namen trug.

„Wir haben Jahre damit verbracht, Ärzte und Krankenhäuser aufzusuchen, aber die Antwort war immer dieselbe: keine Hoffnung auf ein Kind“, sagte Schirin, während sie die Babykleidung in einen Kleiderschrank einräumt und ihr Zuhause auf seine Ankunft vorbereitet. „Aber jetzt gibt es neue Hoffnung und eine Chance für mich, Mutter zu sein.“

Die Liste der Voraussetzungen ist lang

Für einen Moment schien die Entscheidung, ein Pflegekind aufzunehmen, für Sami und Schirin einfach — bis sie auf eine Reihe bürokratischer Hürden stießen. Atallah erklärt, das Ministerium sei die einzige offizielle beaufsichtigende Behörde für Kinderpflegschaft. Der Begriff „Adoption“ wird nicht verwendet, da das islamische Recht dies strenggenommen verbietet. Stattdessen fördert es die „Pflegschaft von Waisen“ unter bestimmten Bedingungen.

Trotz des andauernden Krieges sind bürokratische Bedingungen bestehen geblieben, und nur sechs Kinder wurden seit Kriegsbeginn offiziell in Pflegefamilien untergebracht. Zu den wichtigsten Voraussetzungen gehören: Das Paar muss palästinensisch und unter 50 Jahre alt sein; sie müssen seit mindestens acht Jahren verheiratet und kinderlos sein; und sie müssen ohne Erfolg versucht haben, Methoden der unterstützten Reproduktion (z. B. In-vitro-Fertilisation (IVF), künstliche Befruchtung) anzuwenden.

Das Paar muss zudem frei von Krankheiten sein und über ein sauberes Vorstrafenregister sowie über ein Führungszeugnis verfügen. Ihre Familien müssen ebenfalls damit einverstanden sein, dass sie ein Kind aufnehmen, welches nicht biologisch ihres ist. Außerdem ist unerlässlich, dass das Paar in der Lage ist, das Kind finanziell zu unterstützen. Vor der Genehmigung wird eine gründliche Untersuchung des Paares durchgeführt.

Was die Eintragung des Pflegekindes in amtliche Dokumente betrifft, einigt sich das Ministerium mit dem Pflegevater auf einen Namen. Sein Name wird dann zusammen mit dem Namen des Kindes in amtliche Dokumente eingetragen. Das Ministerium vermerkt in einem Register, dass das Kind bei Pflegeeltern lebt, jedoch nicht rechtskräftig adoptiert ist.

Eine besondere Klausel in dem Verfahren ermutigt Pflegemütter dazu, zum Zwecke einer Hormonbehandlung einen Gynäkologen zu konsultieren, um das Stillen anzuregen. Die Produktion von ausreichend Milch für mindestens fünf volle Mahlzeiten stellt eine mütterliche Bindung her, die im islamischen Recht anerkannt wird. Im Islam wird das Kind damit mit einem leiblichen Kind gleichbedeutend. Das bezieht sich auch auf Rechte und Verbote — zum Beispiel, wen es heiraten darf und wen nicht —, allerdings erbt das Kind nicht den Besitz der Eltern, es sei denn, dies wurde in einem Testament festgelegt.

„Den Familien wird empfohlen, dem Kind im Alter von etwa sieben Jahren behutsam zu erklären, wie es in die Familie gekommen ist, und zwar auf eine Art und Weise, die seinem Alter angemessen ist und weitere Traumata vermeidet“, so Atallah. Diese konkrete Empfehlung stärkte das Vertrauen von Sami und Schirin in ihre Entscheidung, ein Kind in Pflege zu nehmen — ein Baby in ihr Leben aufzunehmen, das durch so viel Unrecht in der Welt allein zurückgelassen wurde.

„Wir haben die medizinischen Untersuchungen abgeschlossen und bereiten uns auf das verbleibende Verfahren vor“, sagt Schirin. „Die Wahrheit ist, dass ich bei jedem Schritt den Atem anhalte, meine Hand auf mein Herz lege und mir unser Leben mit diesem Kleinen vorstelle, der bald in unser Zuhause kommt.

 

Der Artikel ist eine bearbeitete Übersetzung des arabischen Originals. Aus dem Englischen übersetzt von Annalena Heber.

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