Grand Prix der Doppelmoral
"Ich finde es entsetzlich", sagt Madawi al-Rasheed. "In einer Zeit, in der sich die ganze Welt darauf konzentriert, wie man mit autoritären Herrschern umgeht, die den Frieden bedrohen, müssen wir feststellen, dass Sportorganisationen die Menschenrechtslage und die Führung in Saudi-Arabien vollkommen egal sind." Die 59-jährige Sozialanthropologin stammt aus Saudi-Arabien, wohnt aber seit langer Zeit in London, wo sie am "Middle East Centre" der London School auf Economics and Political Science lehrt.
Angesichts der Menschenrechtssituation im Land und des Engagements Saudi-Arabiens im Krieg im Jemen betrachtet sie das anstehende Formel-1-Rennen genauso kritisch, wie andere große Sportevents die in Saudi-Arabien stattfinden. "Diese Art von Veranstaltungen sollten boykottiert und jede Art von westlicher Hilfe und Unterstützung davon abhängig gemacht werden, dass das saudische Regime sich an das Völkerrecht und die internationalen Menschenrechte, Werte und Normen hält."
Hunderte Millionen für ein positives Image
Doch stattdessen wird am Sonntag in Dschidda das zweite Rennen der Formel-1-Saison gestartet. Mohammed bin Salman darf sich erneut als stolzer Gastgeber und großer Fan des PS-Zirkus' inszenieren. Der umstrittene saudische Kronprinz hatte schon bei der Formel-1-Premiere im Dezember den Gang durch Boxengasse und Startaufstellung zelebriert und sich im Glanz der Rennserie gesonnt. "Das ist Teil seiner 'Vision 2030' und des Sportswashings, um den Ruf Saudi-Arabiens grundsätzlich aufzupolieren", sagt Madawi al-Rasheed gegenüber der DW.
Mit dem zweiten Rennen sei "das Königreich nun zur Heimat des Motorsports in der Region geworden" wurde Sportminister Prinz Abdulaziz bin Turki Al-Faisal in der saudischen Zeitung "Alriyadh" am Dienstag zitiert. Neben der Formel 1 fährt auch die Rallye Dakar seit 2020 durch die saudische Wüste. Fußball-Highlights wie ein Freundschaftsspiel zwischen Brasilien und Argentinien und der spanische Supercup haben bereits in Saudi-Arabien stattgefunden, ebenso ein WM-Boxkampf im Schwergewicht. Zuletzt hat sich der saudische Staatsfond PIF für rund 350 Millionen Euro eine 80-prozentige Mehrheitsbeteiligung beim Premiere-League-Klub Newcastle United gesichert.
Willkommene Finanzspritze aus dem Autoland
Auch den Zuschlag der Formel 1 hat sich Saudi-Arabien etwas kosten lassen: Die staatliche saudische Ölgesellschaft Aramco schloss eine Sponsorendeal mit der Rennserie ab. Kurz darauf gaben die Formel-1-Organisatoren im Januar 2020 bekannt, dass künftig auch in Saudi-Arabien Rennen stattfinden werden. Wie die "Motorsportweek" im April 2020 berichtete, läuft der Aramco-Kontrakt über zehn Jahre und bringt der Formel 1 umgerechnet rund 535 Millionen Euro (450 Millionen Pfund) ein. Andere Quellen sprechen sogar von 800 Millionen Euro. Viel Geld für die Formel 1, die 2020 laut Rechteinhaber Liberty Media eine Gesamtsumme von 1,145 Milliarden US-Dollar umsetzte - für Aramco angesichts jährlicher Gewinne im zwei- bis dreistelligen Milliardenbereich dagegen eher nur Peanuts.
Ohnehin ist die Formel 1 - rein wirtschaftlich betrachtet - am richtigen Ort gelandet. "Saudi-Arabien ist ein sehr junger Markt. Es gibt viele große Familien, damit auch viele junge Leute", sagt Christian Glosauer, Wirtschaftsexperte für den Mittleren Osten bei Germany Trade and Invest (GTAI), der Nachfolgegesellschaft der Bundesagentur für Außenwirtschaft, im Gespräch mit der DW. "Außerdem ist es ein klassisches Autoland. Das Auto hat dort einen sehr hohen Stellenwert." Zwar entwickele sich auch beim öffentlichen Verkehr viel, er sei aber noch keine wirkliche Alternative. "Man ist in Saudi-Arabien einfach auf sein Auto angewiesen und liebt sein Auto."
Gleichzeitig sei das Öl-Land Saudi-Arabien aber auch in Sachen Nachhaltigkeit - deren Förderung sich die Formel 1 auf die Fahnen geschrieben hat - ein geeigneter Partner. "Es gibt große Pläne für erneuerbare Energien, die auch schon in der Umsetzung sind", erklärt Glosauer. "Vor allen Dingen geht es um Photovoltaik im ganz großen Stil und um grünen Wasserstoff, außerdem gibt es einige Projekte großer Solarparks."
Keine Meinungsfreiheit, tausende zivile Opfer im Jemen
Dem gegenüber steht jedoch eine lange Mängelliste bei den Menschenrechten: Der Wüstenstaat wird von der Königsfamilie Saud autoritär regiert. Es gibt keine Wahlen, Opposition und Kritik werden schwer bestraft. Der Fall des Bloggers Raif Badawi ist nur ein prominentes Beispiel von vielen. In der Rangliste der Pressefreiheit der Organisation "Reporter ohne Grenzen" belegt Saudi-Arabien nur Rang 170 von 180. "Aller Reformrhetorik zum Trotz", heißt es dort, "wurde seit der Ernennung von Kronprinz Mohammed bin Salman 2017 die Repression noch verstärkt. Viele Medienschaffende sind willkürlich inhaftiert, die meisten werden wohl gefoltert".
Human Rights Watch (HRW) kritisiert die "anhaltende Unterdrückung von Dissidenten und Aktivisten sowie das Versäumnis, Rechenschaft für die Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi durch saudische Agenten im Oktober 2018 abzulegen". Hinzu kommt die alljährlich hohe Zahl von Hinrichtungen, die teilweise sogar öffentlich stattfinden. Zwar gebe es lobenswerte Reformen für saudische Frauen, die laut HRW vollständig umgesetzt einen bedeutenden Schritt nach vorne darstellten, allerdings befänden sich Frauenrechtsaktivisten "nach wie vor im Gefängnis oder stehen wegen ihres Engagements vor Gericht".
Nicht vergessen darf man auch, dass Saudi-Arabien seit 2015 einen blutigen Krieg in seinem Nachbarland Jemen unterstützt, der seitdem laut der Hilfsorganisation "Save the Children" mehr als 10.000 zivile Opfer gefordert hat, rund ein Viertel davon Kinder. Zudem litten fast 400.000 Mädchen und Jungen unter fünf Jahren an akuter Unterernährung.
"Alarmierende Nachrichten" kein Grund für Absage
Die Organisatoren der Formel 1 hat all das nicht davon abgehalten, Saudi-Arabien in den Kreis der Ausrichterländer aufzunehmen. Ab 2023 soll es sogar zwei Rennen im Wüstenstaat geben. Dabei gibt es von der Formel 1 eine Verpflichtungserklärung zur Achtung der Menschenrechte. Darin heißt es unter anderem, man werde "gegebenenfalls sinnvolle Konsultationen mit den relevanten Stakeholdern in Bezug auf die im Rahmen unserer Sorgfaltspflicht aufgeworfenen Fragen durchführen". Anfragen der DW, warum man in Saudi-Arabien Formel-1-Rennen abhält und wie genau man Menschenrechtsfragen mit den saudischen Partner bespricht, blieben von Formel 1 und FIA unbeantwortet.
Vor dem Rennen in Dschidda äußerte sich jedoch Formel-1-Geschäftsführer Stefano Domenicali bei Sky Sports. Er nannte zwar die Nachricht der 81 Hinrichtungen, die kürzlich in Saudi-Arabien an nur einem Tag stattgefunden haben "ziemlich alarmierend", sah aber keinen Grund, deswegen nicht zu fahren. Im Gegenteil helfe die Formel 1 dabei, dem Thema "einen anderen Stellenwert in den Nachrichten" zu geben, die Missstände könnten so in "ein intensives Rampenlicht" gestellt werden, sagte der Italiener.
Das deckt sich mit der Ansicht der saudischen Gastgeber: Sportminister Al-Faisal räumte im Interview mit "Alriyadh" ein, dass es noch viel zu tun gebe. Großveranstaltungen wie die Formel 1 auszurichten, sei aber wichtig, "um unsere Gesellschaft integrativer und vielfältiger zu gestalten und die Gleichberechtigung zu fördern". Kritik sei willkommen, wenn sie auch den Wandel und die großartige Entwicklung anerkennt, die das Königreich im Allgemeinen und im Sport im Besonderen erlebt.
Europaparlament: "Starke Doppelmoral"
Als Wladimir Putin Ende Februar die Ukraine überfallen ließ, dauerte es nicht lange bis der für September geplante Grand Prix in Sotschi abgesagt wurde. Dass die Menschenrechtslage in Saudi-Arabien trotz aller Reformen nach wie vor prekär ist und im Jemen mit saudischer Unterstützung Kriegsverbrechen begangen werden, reicht dagegen offenbar nicht aus für Konsequenzen.
90 Abgeordnete des Europaparlaments warfen FIA und Formel 1 am Mittwoch vor, Sportswashing aktiv zu fördern und eine "starke Doppelmoral" an den Tag zu legen. Eine einschneidende Wirkung wird das aber eher nicht erzielen, schließlich lebt die Formel 1 mit dieser Doppelmoral seit Jahren sehr gut.
Andreas Sten-Ziemons
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