Leben in einem versteinerten System
Sie gingen jeden Tag erneut nach vorn – eloquent und unverblümt, mit Karikaturen von Diktatoren in der Hand und laut die demokratische Veränderung fordernd. Motiviert von sozialen Zielen und eigenen Interessen gingen sie zu Fuß, fuhren mit Bussen und Eselskarren, telefonierten und twitterten mit Gleichgesinnten.
Der Kontrast zwischen diesem dynamischen und offenen Protest und der Situation in Saudi-Arabien könnte kaum größer sein. Dort leben Frauen in einem versteinerten System. Die Gesichter der königlichen Familien sind allgegenwärtig, die Gesichter von Frauen sind verschleiert und gewaltsam versteckt.
Nirgendwo sonst wird Moderne dermaßen als Problem wahrgenommen. Aus dem Wüstenboden erheben sich Wolkenkratzer, aber in ihren Aufzügen dürfen Frauen nicht gemeinsam mit Männern fahren. Frauen dürfen nicht auf die Straße gehen, keine Autos fahren und ohne die Erlaubnis eines männlichen Vormunds das Land nicht verlassen.
Im Visier der religiösen Tugendwächter
Auf dem Höhepunkt der ägyptischen Revolution hat mir Fatima, eine junge Frau aus Mekka, eine E-Mail geschickt: "Vergiss die Rufe nach Freiheit. Ich kann nicht einmal ein Kind gebären, ohne auf dem Weg zum Krankenhaus von einem mihrim (männlichen Vormund) begleitet zu werden."
Weiter schrieb sie: "Und die mataw'a (eine Religionspolizei, die offiziell als 'Kommission für die Förderung der Tugend und die Verhinderung des Lasters' bezeichnet wird und deren Vorsitzender Ministerrang besitzt) hat das Recht, uns öffentlich zu demütigen." In der Tat wurde die Macht der mutaw’a durch Anordnung von König Abdullah im März noch vergrößert, nachdem sie bei der Unterdrückung von Protesten mitgeholfen hatte.
Aber Globalisierung kennt keine Grenzen, nicht einmal solche, die von den islamischen Sittenwächtern aufgestellt wurden. Neunjährige Saudi-Mädchen chatten online, obwohl ihnen durch fatwas von Wahhabi-Klerikern der Zugang zum Internet ohne die Überwachung eines männlichen Vormunds verboten wurde.
Viele Frauen sitzen heimlich vor den Satellitenprogrammen und sehen ihren Geschlechtsgenossinnen auf den öffentlichen Plätzen in Ägypten und im Jemen zu, die sich außerhalb ihrer Reichweite, aber nicht außerhalb ihrer Fantasie befinden.
Aktiv gegen Fahrverbote
Am 21. Mai durchbrach eine mutige Frau namens Manal al Sharif das Schweigen und die Apathie und traute sich, das Autofahrverbot für Frauen zu durchbrechen. Die Woche darauf verbrachte sie in einem saudischen Gefängnis.
Aber innerhalb von zwei Tagen nach ihrer Verhaftung sahen 500.000 Zuschauer das YouTube-Video von ihrer Autofahrt. Frustriert und gedemütigt von dem Verbot, schworen tausende saudischer Frauen, am 17. Juni einen "Autofahrtag" zu veranstalten.
Saudi-Arabien ist das einzige Land in der Welt, in dem es Frauen verboten ist, Auto zu fahren. Die Haftstrafe für dieses Vergehen wird weder durch islamische Texte noch durch die Natur der facettenreichen Gesellschaft gerechtfertigt, über die die Al Saud und ihre Wahhabi-Partner herrschen. Tatsächlich ist sie sogar in der restlichen arabischen Welt beispiellos – was im Zusammenhang mit den massiven sozialen Unruhen fast überall in der Region offensichtlich wird.
Erzwungene Segregation
In fast jedem Bereich saudischen Lebens findet erzwungene Segregation statt. 50 Prozent des studentischen Lehrplans besteht aus Religionskunde. Daher sind alle Haushalte des Landes vom Wahhabi-Dogma durchsetzt.
Die Schulbücher – rosa für Mädchen und blau für Jungen, mit jeweils unterschiedlichem Inhalt – enthalten die Regeln, die von Imam Muhammad bin Abdul Wahhab aufgestellt wurden, einem Kleriker aus dem 18. Jahrhundert und Gründer des Wahhabismus.
Eines der stärksten Hindernisse für Frauen ist das saudische Rechtssystem, das auf islamischen Interpretationen zum Schutz eines patriarchischen Systems basiert. Es ist nicht nur so, dass die richterlichen Entscheidungen das System stützen, sondern auch das Gegenteil ist wahr: das Patriarchentum wurde zur Triebkraft des Rechtswesens.
So ist Frauen keine juristische Tätigkeit erlaubt, streng nach der Wahhabi-Regel, dass es "der Frau an Geist und Religion mangelt". Anders ausgedrückt, beruht das saudi-arabische Rechtssystem auf Frauenfeindlichkeit – nämlich dem gesetzlich vorgeschriebenen umfassenden Ausschluss der Frauen vom öffentlichen Raum.
Die saudischen Führer haben bekannt gegeben, dass Demonstrationen haram sind – eine Sünde, die mit Gefängnis und Auspeitschen bestraft wird. Und einige Kleriker haben nun das Autofahren von Frauen ebenfalls als aus dem Ausland gefördertes haram bezeichnet und die gleichen Strafen dafür angedroht.
"Wir alle sind Manal al Sharif!"
Trotz solcher Drohungen sind tausende saudischer Frauen der Facebook-Gruppe "Wir alle sind Manal al Sharif" beigetreten, und seit deren Verhaftung wurden auf YouTube zahllose weitere Videos Auto fahrender Frauen veröffentlicht.
Wie Mamal wurden auch sie inhaftiert, und die Regierung scheint entschlossen, sie zu verurteilen. Aber Wajeha al Huwaider, Bahia al Mansour, Rasha al Maliki und viele andere Aktivistinnen bestehen weiterhin auf ihrem Recht, Auto zu fahren, und fordern vehement den Abbau der Restriktionen und das Ende der Abhängigkeit von Frauen.
Der revolutionäre Mut von Rosa Parks, die sich 1955 in Montgomery/Alabama, weigerte, sich im Bus in die letzte Reihe zu setzen, trug zum Beginn der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung bei. Ob der Widerstand von Manal al Sharif gegen die systematische Unterdrückung von Frauen durch das Saudi-Regime einen ähnlichen Effekt haben wird, werden wir bald sehen.
Mai Yamani
© Project Syndicate 2011
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de 2011