Dschihadisten als Profiteure der Hoffnungslosigkeit
Fußballstadien scheinen erneut das bevorzugte Ziel von Dschihadisten zu werden: Auf den Terrorangriff des "Islamischen Staates" (IS) auf das Stade de France in Paris folgten fünf Tage später ein Schusswechsel mit militanten Dschihadisten in Nähe des Stadions, ein vereitelter Anschlag auf ein Fußballstadion in Hannover knapp eine Stunde vor Anpfiff des Länderspiels zwischen Deutschland und den Niederlanden sowie die Absage des Freundschaftsspiels zwischen Belgien und Spanien in Brüssel und die in Frankreich ausgerufene dreimonatige Reisesperre für Fußballfans.
Auf perverse Weise hat die Entscheidung Frankreichs, Fußballfans mit einer Reisesperre für Auswärtsspiele zu belegen, die Bedeutung von Fußball als Mittel der Mobilmachung bestätigt. Ein erfolgreicher Angriff auf ein Fußballspiel würde dem Ziel des IS, die Gesellschaft zu polarisieren, enormen Auftrieb verleihen, soziale Spannungen verschlimmern und marginalisierte Gruppen noch weiter marginalisieren.
Wachsende Entfremdung
Die französischen Ängste wurzeln in einer gewissen Entfremdung von Teilen der Jugendlichen mit Migrationshintergrund, was diese veranlasst hat, der französischen Nationalmannschaft ihre Unterstützung zu verweigern, um damit ihrem Gefühl Ausdruck zu verleihen, keinen gleichberechtigten Platz in der französischen Gesellschaft zu haben.
Zudem erklären sich die französischen Ängste mit einer historischen Abfolge von gewalttätigen Ausschreitungen von Immigranten ganz unabhängig davon, ob die französische Equipe gewinnt oder verliert. Dies geht zurück auf den Sieg Frankreichs in der Weltmeisterschaft 1998 mit einer Mannschaft, in der eine neue Generation von Spielern antrat, die alle ihre Wurzeln außerhalb Frankreichs hatten. Damals wurde dies als Symbol einer erfolgreichen Integration von Minderheiten in Frankreich betrachtet.
Tage zuvor nahm die Polizei in Frankreich und in vier anderen europäischen Ländern 100 Personen algerischer Herkunft fest, die der "Groupe Islamique Armé" (GIA) zugerechnet wurden, einer militanten islamistischen Gruppe, die in den 1990er Jahren im Rahmen des algerischen Bürgerkriegs Gewalttaten verübte – ein Krieg, der mindestens 100.000 Menschen das Leben kostete.
Elf Jahre später strömten etwa 12.000 Jugendliche algerischer Herkunft in die Pariser Champs-Élysées. Nicht um Frankreich zu unterstützen, das sich gerade auf ein wichtiges WM-Qualifikationsspiel gegen Irland vorbereitete, sondern um den in Sudans Hauptstadt Khartoum errungenen Sieg Algeriens gegen Ägypten zu feiern.
Die Feier entwickelte sich zu einer Schlacht mit der Polizei. Andrew Hussey, ein Kulturhistoriker, der die Beziehungen zwischen Frankreich und Nordafrika sowie die Fußballpolitik der französischen Gemeinschaften in Nordafrika erforschte, berichtete von einem Studenten, der zu ihm sagte: "Ich kann das nicht fassen. So etwas habe ich noch nie gesehen. Hier geht's doch nicht um Fußball. Es muss um etwas anderes gehen."
Andrew Hussey schrieb in der englischen Tageszeitung The Guardian, die Unruhen seien nicht einfach mit dem gefühlten Rassismus in Frankreich zu erklären. Die Unruhen gingen vielmehr auf die französische Kolonialherrschaft zurück, wonach Algerien zwar als Teil Frankreichs gesehen werde, Algerier jedoch als Bürger zweiter Klasse behandelt würden.
Nach dem Sieg Algeriens über Russland in der Endrunde der Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien kam es vergangenes Jahr in Paris und Marseille zwischen Fans mit Migrationshintergrund und der Polizei zu gewaltsamen Auseinandersetzungen.
Diese Art der gesellschaftlichenSpaltung hatte der IS mit seinem Terrorangriff auf das Stade de France im Sinn. Der IS versucht ein Gefühl der Vorverurteilung, Diskriminierung und Verlassenheit auszunutzen, das weit über Frankreich hinausgeht und nicht auf Gemeinschaften beschränkt ist, die sich entrechtet und hoffnungslos fühlen.
Ironischerweise könnte genau dieses Kalkül nicht aufgegangen sein. Denn französische und andere Muslime verurteilen die Pariser Terrorangriffe deutlich entschiedener als den Anschlag im Januar dieses Jahres auf das Satiremagazin Charlie Hebdo und auf einen jüdischen Supermarkt.
"Warum soll ich schuld sein?"
In die von französischen Muslimen über das Massaker in Paris empfundene Abscheu mischt sich aber das Gefühl, dass Muslime weltweit stereotypen Vorurteilen ausgesetzt sind.
Ein französischer Beamter muslimischen Glaubens zitiert seine Tochter nach der Heimkehr aus der Schule mit den Worten: "Warum soll ich schuld sein? Was habe ich denn getan? Ich bin doch Französin. Und trotzdem werde ich als Terroristin gebrandmarkt, während man gleichzeitig Bomben auf Muslime in Syrien und im Irak abwirft."
Ein französischer Taxifahrer algerischer Herkunft bemerkte: "Diese Taten sind durch nichts zu rechtfertigen. Das sind doch Bestien. Aber Frankreich und andere Länder können nicht einfach Bomben auf andere Länder abwerfen und es dann den einfachen Leuten überlassen, die Trümmer einzusammeln. Das provoziert logischerweise Reaktionen. Doch das war definitiv nicht der richtige Weg."
Türkische Fußballfans in Istanbul störten durch Buhrufe eine Schweigeminute zu Ehren der Opfer von Paris zum Auftakt eines Spiels zwischen der Türkei und Griechenland, dem auch der türkische und der griechische Premierminister beiwohnten. Das Spiel war eigentlich als Versöhnungsspiel zwischen beiden Ländern gedacht. Auch während einer Schweigeminute in Dublin zum Playoff zwischen Irland und Bosnien-Herzegowina zur EM 2016 waren Buhrufe und Pfiffe zu hören.
Es bleibt der Eindruck einer internationalen Gemeinschaft, die mit unterschiedlichen Maßstäben misst. Das müssen auch syrische Bürgerkriegsflüchtlinge und Libanesen so empfinden, die einen Tag vor dem Terrorangriff in Paris von einem verheerenden Selbstmordattentat des IS heimgesucht wurden: Dschihadisten hatten in Beirut 40 Menschen in den Tod gerissen.
"Als meine Landsleute starben, kam kein Land auf die Idee, seine Sehenswürdigkeiten in unseren Nationalfarben anzuleuchten", schrieb Elie Fares, ein libanesischer Arzt, in seinem Blog. Er bezog sich damit beispielsweise auf die Oper in Sydney und auf den Big Ben in London, die in den Farben der französischen Trikolore angeleuchtet wurden, um der Opfer der Pariser Attentate zu gedenken und sich solidarisch mit Frankreich zu zeigen.
"Als meine Landsleute starben, gab es keine weltweiten Trauerbekundungen. Ihr Tod war lediglich eine kleine Meldung im internationalen Nachrichtenkreislauf. Etwas, das in dem Teil der Welt eben passiert", so Fares, der damit beklagt, dass das Leben von Arabern offenbar weniger zählt.
Hoffnungslosigkeit als Triebfeder für Radikalisierung
Nour Kabbach, die aus ihrer syrischen Heimatstadt Aleppo vor den Bomben floh, schrieb auf Facebook zu den Sympathiebekundungen nach den Attentaten in Paris: "Stellt euch vor, dies alles geschähe ohne weltweite Sympathie für die unschuldigen Opfer. Ohne Live-Ticker mit Meldungen im Minutentakt. Und ohne die Solidaritätsnoten sämtlicher Regierungschefs, die die Gewalttaten verurteilen."
Das von Fares und Kabbach geäußerte Gefühl der Verlassenheit prägt auch die Bewohner des Brüsseler Stadtteils Molenbeek, der im europäischen Netzwerk des IS immer wieder auftaucht. Mit 30 bis 50 Prozent ist hier die Arbeitslosigkeit drei Mal so hoch wie im belgischen Durchschnitt.
"Religion ist nicht die Hauptursache (für Radikalisierung). Vielmehr ist es die Hoffnungslosigkeit", so Jamal Ikazban in der New York Times. Ikazban hat marokkanische Wurzeln, lebt selbst in Molenbeek und sitzt als Abgeordneter für die "Parti Socialiste" im Brüsseler Regionalparlament.
Französische Politiker und Fachleute gestehen hinter vorgehaltener Hand ein, dass die französischen Vergeltungsschläge aus der Luft nur wenig zur Bekämpfung des IS beitragen dürften, sofern die militärischen Bemühungen nicht in den Heimatländern von sozialen und wirtschaftlichen Maßnahmen flankiert werden, die bei den tief verwurzelten und durchaus gerechtfertigten Ressentiments ansetzen.
"Wir befinden uns im Wahlkampf. Die Luftschläge sind der Innenpolitik geschuldet, da der IS der extremen Rechten einen gewaltigen Schub verleiht. Im Kampf um Syrien werden sie nichts bewirken", erklärte ein Fachmann.
James M. Dorsey
© Qantara.de 2015
James M. Dorsey ist Senior Fellow an der S. Rajaratnam School of International Studies der Nanyang Technological University in Singapur, Co-Direktor des Instituts für Fankultur an der Universiät Würzburg, Kolumnist und Autor des Blogs The Turbulent World of Middle East Soccer sowie eines unter demselben Titel in Kürze erscheinenden Buches.
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers