Eine Frage des gegenseitigen Interesses
"Man versteht nicht, was 'Flüchtling' bedeutet, wenn man nicht monatelang jeden Tag um sechs Uhr früh nach Essen angestanden hat. Zuerst glaubt man noch, man sei eine Ausnahme, stünde außerhalb des Spiels, und hätte noch Wahlmöglichkeiten. Als Schriftsteller hat man schließlich seine Kreativität und eigene Projekte, die man irgendwann wieder aufgreifen wird. Sicher werden sich Möglichkeiten auftun, glaubt man, und man hat ja viel zu sagen. Doch dann muss man sich der neuen Realität stellen: Man ist Flüchtling, ganz gleich, ob Schriftsteller, bildender Künstler, Musiker oder wie immer man sich definiert – und da steht man nun in der Schlange, wartet auf Essen und rückt Zentimeter um Zentimeter vorwärts."
So beschreibt die syrische Schriftstellerin Rasha Habbal die schwierige Existenz von Schriftstellern in dem Land, in das sie geflohen sind. Basierend auf eigenen Erfahrungen glaubt Habbal, die sich mit ihren Gedichten mittlerweile in Deutschland einen Namen gemacht hat, dass es Schriftsteller in ihrem neuen Land schwer haben, sich zu etablieren.
Schwierigkeiten auf vielen Ebenen
Sie selbst steht unter großen Druck, vor allem aufgrund der Notwendigkeit, sich um Wohnung, Asylantrag und andere bürokratische Prozeduren zu kümmern, wodurch sie von ihrer künstlerischen Arbeit abgehalten wird.
Es war nicht so leicht wie erwartet, fährt Rasha Habbal fort: "Die größte Schwierigkeit – abgesehen von denen, vor denen wir alle stehen – bestand darin, dass ich, nachdem ich einmal zu einer literarischen Veranstaltung eingeladen war, wegen des Votums der syrischen Veranstalter beim nächsten Mal nicht mehr mit dabei war. Bei solchen Einladungen spielen oft Vetternwirtschaft und persönliche Urteile eine Rolle, und dadurch werden manche Schriftsteller unfair behandelt und kommen nicht zum Zug. Die deutsche Kulturszene kennt die Wahrheit noch längst nicht, weil wir in einer anderen Sprache schreiben. Offenbar sind uns unsere Probleme hierher gefolgt: Jeder von uns steckt immer noch in seiner eigenen kleinen Community fest."
Die Alltagsprobleme, die das Leben der syrischen Flüchtlinge erschweren, sind nicht die einzigen Schwierigkeiten, die hierzulande auf den exilierten Schriftstellern lasten. Die Sprache ist ein wesentlicher Faktor bei der Übermittlung unserer literarischen Erzeugnisse an die Welt und insbesondere an die deutsche Gesellschaft.
"Sprache ist jetzt für uns ein Luxus"
Die syrische Autorin Lina Atfa sagt: "Sprache ist jetzt für uns ein Luxus. Wir haben viele Fragen, die uns beschäftigen und uns zwingen, irgendwo einen festen Ort zu finden, aber wir haben das Gefühl, die neue Sprache unter Zwang zu lernen. Obwohl ich als Schriftstellerin in meiner eigenen Sprache ganz und gar zu Hause bin, stelle ich mich beim Deutschlernen wie ein Kind an. Das bin ich nicht gewöhnt, und es gibt mir ein Gefühl von Schwäche."
Schubladendenken: Aus Sicht von Widad Nabi, einer Dichterin aus Syrien, ist das Grundproblem, dass jeder sie als schreibenden Flüchtling sieht, anders gesagt, ihre literarische Arbeit als Äußerung einer geflüchteten Frau und nicht einer Dichterin betrachtet. Die Menschen, die Wadid Nabi kennenlernt, behandeln ihre literarische Arbeit als Produkt eines Flüchtlings und nicht einer Schriftstellerin. "Die Phase, in der wir uns gerade befinden, ist eine vorübergehende und wird bald enden", erklärt Widad Nabi. "Ich würde gern jemanden finden, der sich auf mein Werk konzentriert und den Text im Blick hat, sich mit ihm beschäftigt, ob er gut oder schlecht ist. Ich brauche eine Institution, die meine Arbeit als Literatur behandelt und nicht den Flüchtling in mir sieht, der zufällig auch etwas produziert oder leistet."
Gefangen im Räderwerk der Bürokratie
Im Gegensatz zu anderen weiblichen Autoren will Khawla Dunia nicht anders behandelt werden als die übrigen Geflüchteten. Für sie wäre das nicht normal, und dennoch glaubt sie, dass den Schriftstellern eine wichtige Rolle zukommt, weil sie die Leiden der Syrer durch ihre eigene Erfahrung oder die anderer Menschen transportieren können. Sie wissen, wie man solche Erfahrungen in Worte fasst.
"Wenn ich über meine persönliche Erfahrung sprechen soll, dann würde ich sagen, dass ich im Räderwerk der Bürokratie gefangen bin: Ich lebe jetzt in einem kleinen Dorf und lerne Deutsch, aber ich fühle mich wie im Belagerungszustand. Ich wäre lieber an einem Ort, an dem ich mich nützlich machen kann. Ich bin Schriftstellerin und Politaktivistin, aber hier zählt das alles gar nichts."
Keimzellen einer Diaspora-Literatur
Es ist nicht genau bekannt, wie viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller seit dem Arabischen Frühling nach Deutschland oder insgesamt nach Europa gekommen sind, aber eine beträchtliche Zahl von ihnen ist bei Veranstaltungen in Deutschland öffentlich aufgetreten oder hat sich in deutschen Zeitungen und Zeitschriften geäußert, was manche Literaturkritiker als einen Hinweis deuten, dass sich eine Diaspora-Literatur formiert. Aber können diese Experimente einen substanziellen Kern bilden, der auch Bestand hat?
"Wir können heute zwei Arten von Schriftstellern unterscheiden – diejenigen, die schon in ihrem eigenen Land geschrieben haben, und diejenigen, deren literarische Aktivitäten erst hier einsetzten. Sie alle verdienen Respekt. Wir können noch nicht von klaren Anzeichen für die Entstehung einer Diaspora-Literatur sprechen, aber es gibt zweifellos erste Keimzellen, in Form von Gedichten, Kurzgeschichten und Romanen über das Leid von Menschen, oder auch journalistische Texte, Zeitungsartikel, Tagebücher und persönliche Aufzeichnungen. Noch warten wir ab, ob ein einheitlicher Werkkomplex entsteht, den man als Diaspora-Literatur bezeichnen könnte", sagt Khawla Dunia.
Die tunesische Dichterin Najet Adouani meint Anzeichen für die Entstehung einer arabischen Literaturszene in Deutschland auszumachen, etwa in Form literarischer Werke, aber auch in peripheren Aktivitäten, in Zeitungen und Verlagen, die neu entstanden sind. Das sind ihres Erachtens nach Entwicklungen, die darauf hindeuten, dass in Deutschland bereits eine arabische Kulturgemeinschaft existiert.
Kein Spiegelbild der Literatur in der arabischen Welt
Doch wird diese Literatur bloß in Nostalgie und Sehnsucht nach der Vergangenheit schwelgen? Dunia meint: "Ehrlich gesagt, wissen die meisten Schriftsteller nicht, was aus ihnen wird. Heute sprechen sie über ihr Leid, aber es kann sein, dass dieselben Leute sich später gut integriert fühlen und anfangen, über die neue Gesellschaft zu schreiben, in der sie leben. Das würde dann auch die Deutschen betreffen, denn es geht um ein demographisches Element, das beim Zusammenleben eine Rolle spielt."
Die Schriftsteller hören also aufeinander und nehmen die Erfahrungen des jeweils anderen wahr, aber glauben die Verleger und die Autoren denn, dass wir tatsächlich am Beginn einer Diaspora-Literatur stehen?
Abdul-Rahman Alawi, ein palästinensischer Verleger, der seit Jahren in Deutschland lebt, drückt es so aus: "Die Nähe so vieler Araber, vor allem aus Syrien, wird sich bei den Deutschen unweigerlich auf den Grad des Interesses an der arabischen Sprache auswirken. Wenn intensiv produziert wird und Programme ins Leben gerufen werden, die die Schriftsteller unterstützen, so dass sie nicht von der Gesellschaft abhängig sind, wird sich langfristig eine arabische Diaspora-Literatur entwickeln. Vorläufig hat jedoch nicht einmal die arabische Literatur, die in der arabischen Welt entsteht, in Deutschland einen hohen Stellenwert."
Und Alawi fügt hinzu: "Es ist eine sehr ungewöhnliche Situation – das deutsche Publikum wird vermutlich an einigen Gefühlsaspekten Interesse zeigen, aber langfristig wird das die Entwicklung der arabischen Literatur nicht beeinflussen. Die arabische Literatur, die in Deutschland produziert wird, wird kein Spiegelbild der Literatur in der arabischen Welt sein. Stattdessen wird sie etwas Unabhängiges werden; sie mag durchaus eine untergeordnete Rolle spielen, weil sie thematisch eine Mischung aus Hier und Dort sein wird. Die Bedeutung des Ausdrucks 'arabische Literatur' oder 'Diaspora-Literatur' muss analysiert werden, und auch die Frage, in welcher Sprache sie entsteht. Nur so können belastbare Fundamente gelegt werden."
Die Rolle der Übersetzer und der Verlage
Natürlich wird man über die arabische Literatur in Europa, ob sie nun von geflüchteten Schriftstellern stammt oder direkt aus der arabischen Welt, nicht diskutieren können, solange es keine Spezialisten gibt, die die betreffenden Werke aus der Originalsprache übersetzen. Verlage haben die Aufgabe, diese Werke zu drucken und zu verbreiten, damit sie den Lesern in Deutschland und Europa zugänglich werden.
Nach Meinung der Übersetzerin Larissa Bender erkannten die Europäer nach dem Arabischen Frühling und dem Zustrom von Flüchtlingen nach Europa, dass sie nichts über die arabische Welt wussten, was daran lag, dass es nicht genug Übersetzer arabischer Literatur gab – eine Spiegelung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Doch nach 2011 waren die Verlage nicht daran interessiert, Werke von Menschen zu übersetzen, die ihre eigene Lebenswirklichkeit schilderten.
Sie publizierten Arbeiten von Journalisten und Autoren, die ein paar Monate lang arabische Länder bereisten und dann auf der Basis ihrer begrenzten Erfahrung darüber schrieben. Später, als eine große Zahl von Flüchtlingen nach Europa strömte, war die Reaktion auf die neue Herausforderung auch nicht angemessener. Die Medien konzentrierten sich, unter Vernachlässigung der Schriftsteller, auf die Geschichten und das individuelle Leid von Menschen auf dem Flüchtlingstreck und versuchten nicht, die Autoren zu verstehen, die nach Europa gekommen waren.
Laut Bender erhielten die Übersetzer danach nicht etwa Verträge für literarische Werke, sondern nur für Fluchtgeschichten – kein Ersatz für echte Literatur. Ihrer Ansicht nach sollten sich die Verantwortlichen für eine Verbesserung der Situation einsetzen, indem sie Literatur von Frauen unterstützen und Förderprogramme für Übersetzungen schaffen, die für das Honorar der Übersetzer aufkommen und Maßnahmen subventionieren, die beiden Seiten helfen. Schriftsteller zu Seminaren, Lesungen und anderen Veranstaltungen einzuladen, ist nicht teuer.
Aber wird sich überhaupt in Zukunft die Verlagspolitik ändern? Piero Salabe vom renommierten Carl-Hanser-Verlag sagt: "Bei der Entscheidung, ein Buch zu veröffentlichen, gehen wir vom Leserinteresse aus, meistens wissen wir nicht viel über die Schriftsteller. Wir interessieren uns nicht für eine bestimmte Weltgegend, sondern für Literatur als Literatur. Ich weiß nicht, ob arabische Leser oder Autoren viel über junge deutsche Autoren wissen. Es ist eine komplexe Thematik, die mit gegenseitigem Interesse zu tun hat: das Interesse am Westen und das an der arabischen Welt."
Nach Salabe sind heute die wichtigsten Kriterien für die deutschen Verlage Kontinuität und langfristige Planung, nicht die Sprache eines Buches. "Es gibt arabische Autoren, wie zum Beispiel Rafik Schami, die das Interesse der Deutschen geweckt haben, aber er schreibt auch schon seit einiger Zeit und produziert ständig Neues. Wenn wir es aber mit einer Bewegung zu tun haben, die nur eine gewisse Zeit existiert, oder mit einem Autor, der einmal etwas schreibt und dann nicht mehr, ist es nicht so leicht, dies zu veröffentlichen."
Rama Jarmakani
© Qantara.de 2017
Aus dem Englischen von Maja Ueberle-Pfaff