Demenz - eine neue Herausforderung

العناية بكبار السن - صورة رمزية.
العناية بكبار السن - صورة رمزية.

Bis 2050 werden im Nahen Osten und in Nordafrika immer mehr ältere Menschen an Demenz erkranken. Auf diese Herausforderung ist die Region nur unzureichend vorbereitet. Die Gründe dafür sind vielfältig. Von Cathrin Schaer, Tarak Guizani und Mohammed Magdy

Von Cathrin Schaer & Tarak Guizani

Das Verhalten ihres Vaters wurde immer unberechenbarer. So entschloss sich Mahbouba el-Hidri, medizinische Hilfe zu holen. Doch die Ärzte stellten ganz unterschiedliche Diagnosen. "Die meisten verschrieben nur Schmerzmittel", erinnert sich die 51-jährige Tunesierin. "Schließlich suchten wir keine weiteren Ärzte mehr auf, sondern kümmerten uns selbst um unseren Vater. Zu dieser Zeit wussten wir noch nichts von Organisationen, die sich um Alzheimer-Patienten kümmern."

Ähnliche Erfahrungen hat auch die Palästinenserin Leila gemacht. "Als meine Mutter erstmals erkrankte, war mir nicht klar, woran sie litt", so Leila, die ihren richtigen Namen in der Öffentlichkeit nicht nennen möchte.

Zu Beginn der Krankheit fragte Leilas Mutter nach Haushaltsgegenständen, die sich bereits seit Jahren im Haus befanden. "Zuerst ging mir das auf die Nerven, so Leila. "Aber dann begann ich über die Symptome zu lesen und begriff, dass sie auf Demenz zurückgehen könnten."

In den Palästinensischen Autonomiegebieten gebe es einen Mangel an medizinischen Fachkräften, sagte Leila. Darum habe sie es äußerst schwierig gefunden, sich um ihre Mutter zu kümmern, die zudem noch an Diabetes litt.

Eine ältere Irakerin raucht eine Zigarette; Foto: AFP via Getty Images
Rauchen, Herzkrankheiten, Diabetes, Übergewicht im mittleren Lebensalter, dazu wenig körperliche Betätigung, soziale Isolation und Luftverschmutzung: All diese Faktoren lassen die Wahrscheinlichkeit für eine Demenzerkrankung im Alter steigen. Die westlichen Industriestaaten sind in der Prävention weiter als die meisten Länder im Nahen Osten und in Nordafrika.

Warum ist der Nahe Osten besonders betroffen?

Laut wissenschaftlichen Studien dürften in Nahost und Nordafrika künftig noch mehr Menschen mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben. In einem Anfang Februar in der britischen Fachzeitschrift "The Lancet" veröffentlichten Bericht entwarfen Forscher auf Grundlage demografischer und gesundheitspolitischer Daten ein Szenario zur künftigen Verbreitung von Demenz in der Region.

Die Zahl der betroffenen Patienten in der Region und weltweit dürfte auch anderen Erhebungen zufolge steigen. Eines der besorgniserregenden Ergebnisse: Während die Zahl der Demenzfälle in Westeuropa demnach bis 2050 um 74 Prozent steigen wird, könnte sie in der Region Naher Osten und Nordafrika um bis zu 400 Prozent zunehmen. Allein im Jahr 2018, so eine Schätzung der "Global Coalition on Aging", litten bereits rund zwei Millionen Menschen im Nahen Osten an der Krankheit.

Die Gründe für den Anstieg sind in erster Linie demografischer Natur. Vereinfacht gesagt: Je mehr Menschen in einer Region leben und je älter sie werden, desto höher wird statistisch auch die Zahl der Demenzerkrankungen sein.

Aber es gibt auch andere, regionalspezifische Risikofaktoren. So ist es in den westlichen Staaten besser gelungen, für die Entwicklung von Demenz bedeutsame Zivilisationskrankheiten einzudämmen. Herzkrankheiten, Rauchen, Diabetes, Übergewicht im mittleren Lebensalter, dazu wenig körperliche Betätigung, soziale Isolation und Luftverschmutzung: All diese Faktoren lassen die Wahrscheinlichkeit für eine Demenzerkrankung im Alter steigen. Die westlichen Industriestaaten sind weiter als die meisten Länder im Nahen Osten und in Nordafrika, wenn es darum geht solche Risikofaktoren zu minimieren.

Auch geringe Bildung und Analphabetismus spielen nach Einschätzung von Ärzten bei der Demenzerkrankung eine Rolle. Dies hat mit der Entwicklung kognitiver Fähigkeiten zu tun. Als Faustregel gilt hier: Wer nicht liest, trainiert sein Gehirn weniger und hat ein dreifach höheres Risiko, später an Demenz zu erkranken.

Schülerinnen im Jemen bei einer Prüfung; Foto: AFP via Getty Images
Bildung als Medizin gegen Demenz: Geringe Bildung und Analphabetismus steigern nach Einschätzung von Ärzten das Risiko, im Laufe des Lebens an einer Demenz zu erkranken. Dies hat mit der Entwicklung kognitiver Fähigkeiten zu tun. Als Faustregel gilt hier: Wer nicht liest, trainiert sein Gehirn weniger und hat ein dreifach höheres Risiko, später an Demenz zu erkranken. So verstanden, ist Analphabetismus im Nahen Osten ein gesundheitlicher Risikofaktor. Während die durchschnittliche Alphabetisierungsrate weltweit bei rund 86 Prozent liegt, hinkt sie im Nahen Osten mit einer Rate von 79 Prozent (Daten aus dem Jahr 2019) hinterher. Allerdings verzeichnet die Region auch Fortschritte: 1973 konnten erst 43 Prozent aller Erwachsenen lesen und schreiben.



So verstanden, ist Analphabetismus im Nahen Osten ein gesundheitlicher Risikofaktor. Während die durchschnittliche Alphabetisierungsrate weltweit bei rund 86 Prozent liegt, hinkt sie im Nahen Osten mit einer Rate von 79 Prozent (Daten aus dem Jahr 2019) hinterher. Allerdings verzeichnet die Region auch Fortschritte: 1973 konnten erst 43 Prozent aller Erwachsenen lesen und schreiben.

Mangelndes Wissen

Tatsächlich gibt es im Nahen Osten nur wenige Statistiken über Demenz und zudem nur wenige geriatrische Fachärzte oder Pflegeeinrichtungen, so das Ergebnis einer Studie des auf Altenpflege spezialisierten Arztes Abdulrazak Abyad aus dem Libanon. Abyad hat mehrere fachspezifische Institutionen gegründet, so etwa die "Middle East Association on Aging and Alzheimer's".

"In Ägypten, wo Statistiken verfügbar sind, treten altersbedingte Krankheiten wie Schlaganfall und Herzkrankheiten bis zu 10 Jahre früher auf als im Westen", so Abyad in einer Studie aus dem Jahr 2014. "Leider deutet dies darauf hin, dass der Nahe Osten möglicherweise viel früher als der Westen auch mit der Last der Alzheimer-Krankheit und verwandter Demenzerkrankungen konfrontiert sein wird."

Hinzu kommen weitere Probleme. So mangelt es in der Region etwa an fachspezifischem Wissen, vor allem in den ärmeren arabischen Ländern. Fachleuten zufolge ist Demenz im Allgemeinen dort häufig nur wenig bekannt und wird von lokalen oder regionalen Gesundheitsbehörden oft als solche gar nicht erkannt. Auch mangelt es vielerorts an medizinischen Fachkräften und Pflegeeinrichtungen.

Auch kulturelle Umstände erschweren mitunter eine angemessene Versorgung in spezifischen Einrichtungen für Demenzkranke. "Ältere Erwachsene genießen in der arabischen Kultur hohes Ansehen", heißt es in einer Studie saudische Mediziner aus dem Jahr 2019. "Darum wird die Unterbringung älterer Angehöriger außerhalb des Hauses als Vernachlässigung familiärer Pflichten angesehen."

Die Jemenitische Hämatologin Amal Saif
Viele Menschen seien nicht hinreichend über Demenz informiert und könnten sich darum auch nicht angemessen um Erkrankte kümmern, so die jemenitische Medizinerin Amal Saif. Nachdem sie zehn Jahre lang ihre demenzkranke Mutter gepflegt hatte, gründete sie die "Yemen Foundation against Alzheimer Dementia" (YFAAD). "Die Zeit der Pflege war sehr schwierig", erinnert sich Saif. "Es gibt im Jemen nur sehr wenige Orte, die an Alzheimer erkrankte Personen aufnehmen oder an die man sich zwecks Unterstützung wenden kann".



Viele Menschen seien nicht hinreichend über Demenz informiert und könnten sich darum auch nicht angemessen um Erkrankte kümmern, so die jemenitische Medizinerin Amal Saif. Nachdem sie zehn Jahre lang ihre demenzkranke Mutter gepflegt hatte, gründete sie die "Yemen Foundation against Alzheimer Dementia" (YFAAD).

Scham und Unsicherheit

"Die Zeit der Pflege war sehr schwierig", erinnert sich Saif im Deutsche Welle-Interview. "Es gibt im Jemen nur sehr wenige Orte, die an Alzheimer erkrankte Personen aufnehmen oder an die man sich zwecks Unterstützung wenden kann", sagt die Hämatologin.

"Manche Familien sprechen zwar offen darüber. Aber sie sind verunsichert." Viele betrachteten die Erkrankung als natürlichen Teil des Alterungsprozesses. "Allerdings wissen manche nicht, wie sie mit den psychologischen Veränderungen umgehen sollen und sperren den Angehörigen einfach in ein Zimmer ein. Andere Familien betrachten die Erkrankung als Schande, die dem Ruf der Familie schade."

Auch die gesellschaftliche Modernisierung trage zur Verschärfung der Probleme bei, sagt Abdulrazak Abyad. "Die Arbeitsmigration junger Menschen und das Bildungsgefälle zwischen den Familienmitgliedern sind mit für die Erosion des familiären Unterstützungssystems verantwortlich", so der libanesische Mediziner. "Infolgedessen haben die Familien große Schwierigkeiten, ihre abhängigen älteren Menschen zu unterstützen".

Auch für Mahboubael-Hidri war es schwierig, ihren Vater 25 Jahre lang zu pflegen. Trotzdem sagt sie: "Wir vermissen ihn sehr. Trotz seiner Krankheit hatte er einen besonderen Platz bei uns."

Cathrin Schaer, Tarak Guizani, Mohammed Magdy

© Deutsche Welle 2022

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.