Von kultureller Vielfalt lernen

Traugott Schöfthaler berichtet über seine Tätigkeit bei der Anna Lindh-Stiftung und seine Erfahrungen über das Verhältnis zwischen islamischer Welt und dem Westen, das viel zu sehr von gegenseitigem Misstrauen geprägt sei.

Von Traugott Schoefthaler

Vor drei Jahren wurde ich durch die damals noch 25 (heute: 37) Mitgliedstaaten der Europa-Mittelmeer-Partnerschaft (EMP) zum Gründungsdirektor einer neuen gemeinsamen Institution berufen.

Meine Aufgabe bestand darin, eine euro-mediterrane Stiftung aufzubauen. Wichtigstes Ziel sollte sein, entsprechend den Empfehlungen eines vom damaligen Präsidenten der Europäischen Kommission Romano Prodi berufenen Rats der Weisen, "kulturelle Vielfalt zu lernen".

Schon die Entscheidung für den Sitz der Stiftung im Süden war ein Signal für den Wandel in den Beziehungen zwischen Nord und Süd. Ein weiteres Signal war die auf Vorschlag Ägyptens erfolgte Benennung der Stiftung nach der am 10. September 2003 ermordeten schwedischen Außenministerin Anna Lindh.

Plädoyer für kulturelle Vielfalt

Ihr langjähriges Engagement für eine gleichberechtigte Nord-Süd-Partnerschaft und für multilaterale Zusammenarbeit als Mittel zur Überwindung traditioneller Geber-Empfänger-Beziehungen wurde zum Leitmotiv der Stiftung. Es ging um die Herausforderung, neue Formen eines Kulturdialogs zu erproben, die allen Beteiligten wichtige Lernerfahrungen vermitteln.

Meine erste Lektion bestand in der Wahrnehmung der riesigen Kluft zwischen einem internationalen Konsens darüber, dass kulturelle Vielfalt gut, ja sogar lebensnotwendig für die Menschheit ist, und der Realität – sowohl in den zwischenstaatlichen, als auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen.

Dabei geht es nicht nur um den üblichen Umstand, dass zwischenstaatliche Übereinkommen nicht unmittelbar im gesellschaftlichen Leben spürbar werden. Die Kluft hat ihren Ursprung in einem fundamentalen Missverständnis von Vielfalt als Trennungslinie zwischen Ländern, Regionen oder Kontinenten.

Es scheint, als hätten die meisten Regierungen, als sie im November 2001 bei der UNESCO-Generalkonferenz in Paris eine "Allgemeine Erklärung zur kulturellen Vielfalt" im Konsens verabschiedeten, dies vorwiegend als weitere Gelegenheit zu einem Appell für Frieden und Verständigung wahrgenommen, mit dem sie sich routinemäßig vom Szenario eines "Kampfs der Kulturen" distanzieren konnten.

Doch enthält der zwischenstaatliche Konsens von Paris weit mehr: die Erklärung zur kulturellen Vielfalt ist ein Manifest der kulturellen Selbstbestimmung des Einzelnen, des Menschenrechts auf Annahme, Zurückweisung oder Anpassung der in der Gesellschaft vorgefundenen kulturellen oder religiösen Orientierungen und Werte.

Vielfältige und dynamische Identitäten

Die Erklärung erkennt erstmals in der Geschichte internationaler normativer Texte die "mehrfachen, vielfältigen und dynamischen Identitäten von Menschen und sozialen Gruppen" an.

Vor mehr als zehn Jahren hatte bereits die Barcelona-Erklärung von 1995, das Gründungsdokument der Europa-Mittelmeer-Partnerschaft, eine zwischenstaatliche Verpflichtung zur "Sicherung des Respekts vor kultureller Vielfalt und religiösem Pluralismus" enthalten. Dieser Passus scheint zum Opfer desselben fundamentalen Missverständnisses von Vielfalt geworden zu sein.

Die Menschen mit ihren sich überschneidenden kulturellen Orientierungen stehen noch nicht im Mittelpunkt internationaler Zusammenarbeit. Europäer beschwören ungerührt weiter die "europäischen Werte", und ihre arabischen Partner berufen sich auf die "Werte der arabischen Kultur und Zivilisation".

In der Debatte um die Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union sind wir täglich Zeugen eines hemmungslosen Missbrauchs kultureller und religiöser Argumente für politische Zwecke – in Europa. Dabei leben wir in einem Klima wechselseitigen Misstrauens und erneuerten Blockdenkens. Die zwischenstaatlichen Spannungen spiegeln sich im Denken und in den Verhaltensweisen der Bevölkerung.

Fast jeder Bewohner der arabischen Welt, unabhängig von religiöser oder sonstiger Werteorierentierung, sieht sich als Opfer von Diskriminierung und mangelndem Respekt. Die meisten Europäer haben Probleme, wenn das Gespräch auf diesen sensiblen Punkt kommt. Sie flüchten sich dann gerne in "small talk" oder in Belehrungen über Rechtsstaat und Demokratie in Europa.

Oft wird jedoch die Situation noch sehr viel unkomfortabler – dann nämlich, wenn arabische Gesprächspartner sich weiter öffnen und ihre Bitterkeit über eine Welt kommunizieren, die von einer "amerikanisch-zionistischen Verschwörung" gesteuert werde, und ein schwarzes Bild des Westens malen, der seine ethisch-moralischen Werte verraten habe, zugunsten von Doppelmoral und Duldung von Pornographie.

Auswege aus der Konfrontation

Die meisten Bewohner der arabischen Welt teilen solche Empfindungen und sind zudem fest davon überzeugt, dass der Islam die einzige größere Religion sei, die in allen anderen Weltregionen diskriminiert werde.

Pater Paolo dall'Oglio, der geistliche Leiter einer christlich-muslimischen Gemeinschaft im Kloster Deir Mar Mussa in der syrischen Bergwüste, lehrte mich, einen Weg aus solcher Konfrontation heraus zu finden.

Warum sollten wir nicht den ersten Schritt tun, Respekt anbieten, statt zuerst einmal vom anderen einzufordern? Damit lassen sich Herzen gewinnen und verschlossene Gemüter öffnen. Es geht um die richtige Mischung aus südlichen Traditionen der Gastfreundschaft und europäischen Traditionen eines Kampfs gegen Rassismus und Xenophobie.

​​Bei Treffen mit religiösen Führungspersönlichkeiten fand ich einen weiteren Schlüssel: die Bescheidenheit des Gläubigen. Was immer an fundamentalen Unterschieden existieren mag zwischen Geltungsansprüchen letzter Wahrheiten, am Ende handelt es sich um Glaubensakte des Einzelnen, die anderen mitgeteilt werden – mit allen Einschränkungen, denen menschliche Wahrnehmung und Handeln unterliegen.

Erbarmungslose teilen ein Merkmal: den Anspruch auf Besitz absoluter Wahrheiten. Der offene Brief von 38 Führungspersönlichkeiten islamischer Gemeinschaften vom Oktober 2006 an Papst Benedikt XVI war ein wichtiger Beitrag zu einem offenen Dialog. Er hat von höchster Stelle das – auch koranische – Prinzip bekräftigt, nach dem es in Religionsfragen keinen Zwang geben darf.

Eine dritte Lektion erteilte mir Ismail Serageldin, Direktor der "Bibliotheca Alexandrina". Er forderte mich auf, die Unterscheidung zwischen religiöser und wissenschaftlicher Wahrheit offensiv zu vertreten. Ich konnte mehrere Gelegenheiten hierzu nutzen, und, siehe da, es funktioniert.

Selbst Strenggläubige (die wir "Fundamentalisten" zu nennen uns angewöhnt haben), akzeptieren das Argument, dass ihre Geltungsansprüche auf letzte Wahrheiten nur Schaden nehmen könnten beim Versuch, sie wissenschaftlich zu fundieren.

Ewige Wahrheiten vertragen sich schlecht mit dem Umstand, dass wir jeden Tag neue wissenschaftliche Erkenntnisse gewinnen. Selbst Mohammed Mahathir, ehemaliger Premierminister Malaysias und bekannt für seine scharfzüngige Verurteilung westlicher Werte-Dekadenz, vertritt heute dieses Argument mit seinem Ruf an die islamische Welt, sich für Wissenschaft und Technik zu öffnen – ohne religiösen Vorbehalt.

Westliche Arroganz und koloniale Mentalität

Der Blick auf Europa aus dem Süden verändert Perspektiven. Zu viele europäische Sichtweisen sind mit Arroganz gespickt. Die koloniale Mentalität einer Legitimierung partikularer Interessen unter Berufung auf universelle Werte ist fest verwurzelt und vergiftet selbst beste Absichten.

Europäische Afrikareisende kommen im Gespräch mit ihren Gastgebern schnell zur Frage nach den "afrikanischen Problemen", für die sie selbstverständlich Lösungen parat haben.

Sie geben anderen Themen nur wenig oder gar keinen Raum und kommen nur selten auf die Idee, sich auf einen Meinungsaustausch zum Nahostkonflikt, zum Klimawandel, oder zu ethischen Fragen beim Umgang mit Wissenschaft und Technik einzulassen (…).

Solcher Respekt ist nicht die Frucht moralischer Appelle. Aber er kann erworben werden in einem Dialog, der, definiert nach Hans-Georg Gadamer – mit der Annahme beginnt, der Andere könnte Recht haben, ein Dialog, der als Gelegenheit zum Dazulernen verstanden wird.

Seit Beginn ihrer noch sehr jungen Existenz hat die Anna Lindh-Stiftung eine Reihe von Formen der Gestaltung des Kulturdialogs als Lerngelegenheit entwickelt. Euro-mediterrane Jugend-Workshops regen zu Wissbegier zwischen den Teilnehmern an – mit der Ankündigung, am Ende sollten alle jungen Frauen eine Rede als männlicher Außenminister eines anderen Landes halten, unterstützt von einem jungen Mann, der die Funktion der Gleichstellungsbeauftragten im Ministerium wahrnimmt.

Euro-mediterrane Lehrerfortbildungsseminare laden Lehrerinnen und Lehrer aus allen 37 Ländern zum gemeinsamen Studium der vielen Facetten kultureller Vielfalt ein und stellen sie vor die Herausforderung, Jugendlichen unparteiisch den Pluralismus religiöser und anderer Werteorienterungen zu vermitteln.

Erfolgreiche Wege des Kulturdialogs

Junge Künstler aus verschiedenen Ländern erfahren beim gemeinsamen Schaffen, wie viel Spaß Vielfalt machen kann; junge Wissenschaftler dürfen bei hochrangigen Expertentreffen das Wort ergreifen und in länderübergreifenden Teams junger Forscher Erfahrungen mit "Wissenschaft ohne Grenzen" machen.

Nachwuchsjournalisten werden ausgezeichnet für ihre Bemühungen, das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Orientierung Lesern interessant vorzustellen.

Die Anna Lindh-Stiftung ist zu einem Netzwerk von 35 nationalen Netzwerken gewachsen, mit zusammen über 1.300 Mitgliedsinstitutionen und –organisationen, die auf unterschiedlichste Weise Kulturdialog praktizieren. Zwei weitere Netzwerke werden derzeit in Bulgarien und Rumänien aufgebaut.

Die Stiftung hat Kooperationsabkommen geschlossen mit einer Reihe regionaler und internationaler Partner, mit dem Ziel, möglichst viele Multiplikatoreffekte und Synergien zu schaffen, was für eine junge Institution unverzichtbar ist.

Am Ende dieses Jahres braucht die Stiftung Finanzierungszusagen für die nächsten drei Jahre. Auch die Frage der Finanzierung der Koordinierungsarbeit ist in der Mehrzahl der Mitgliedsländer noch nicht oder nicht dauerhaft gelöst.

Ich bin zuversichtlich, dass die zweite Dreijahresperiode in der Existenz der Anna Lindh-Stiftung das Konzept eines Dialogs als Lerngelegenheit für alle Beteiligten weiter vertiefen wird und dazu beiträgt, die Kluft zwischen internationalen Vereinbarungen zur kulturelle Vielfalt und dem Alltag der Bevölkerung zu verringern.

Am Ende meiner Amtszeit als Gründungsdirektor werde ich die Stiftung am 31. März verlassen mit vielen wichtigen Lektionen im Gepäck.

Traugott Schöfthaler

© Traugott Schöfthaler 2007

Dr. Traugott Schöfthaler ist noch bis Ende März 2007 Direktor der "Anna Lindh Mediterranean Foundation for the Dialogue between Cultures" in Alexandria (Ägypten). Er war bis 2004 Generalsekretär der Deutschen UNESCO-Kommission.

Qantara.de

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Homepage der Anna Lindh-Stiftung (engl.)