Mephistopheles spricht, Scheherazade taktiert
Seit Beginn des 18. Jahrhunderts erfreuten sich die orientalischen Märchen aus Tausend und einer Nacht in Europa großer Beliebtheit. Der Orientalist und Wissenschaftler Antoine Galland (1646-1715) nahm sich einem aus Syrien stammenden Manuskript an und veröffentlichte das erste im Abendland verfügbare Exemplar, welches es einem französischsprachigen Publikum ermöglichte, in die Welt der Märchenerzählerin Scheherezade eintauchen zu können.
Die Arbeit von Antoine Galland muss jedoch als eine freie, von Interpretationen und Aussparungen geprägte, Version angesehen werden und ist nicht als wortgetreue Wiedergabe zu behandeln. Wie viele seiner Zeitgenossen, sah sich der Autor verpflichtet, sich den literarischen Konventionen seiner Zeit zu beugen und so scheint es kaum verwunderlich, dass die ursprünglichen, von Erotik und Leidenschaft dominierten Märchen seit jeher in Europa in das Genre der Kinder- und Jugendliteratur gerutscht sind und bis heute dort verweilen.
Galland hüllte die Märchen nicht nur in das "Konformgewand" seiner Zeit, sondern nutzte auch die Gunst der Stunde und fügte dem von ihm verfassten Band einige seiner eigenen literarischen Produktionen bei, die dem hiesigen Publikum als orientalische Originale verkauft wurden. Trotzdem diente vielen der nachfolgenden Übersetzungen die Version Gallands als Vorlage. Auch Goethe war mit dessen Werk bestens vertraut. Nicht wenige seiner Werke, wie beispielsweise Die Leiden des jungen Werthers (1774) oder die Unterhaltung deutscher Ausgewanderten (1795), lassen auf den Einfluss der Version von Antoine Galland schließen.
Von Kindesbeinen an
Schon im Kindesalter wurden dem kleinen Johann Wolfgang und seiner Schwester Cornelia aus dem orientalischen Märchenbuch von Tausendundeiner Nacht vorgelesen. Während es sich die Mutter in ihrem Märchenstuhl bequem gemacht hatte, kauerten sich die Zöglinge in freudig gespannter Erwartung am Fußbein und fieberten den Geschichten der wunderschönen Märchenerzählerin mit Namen Scheherezade entgegen.
Feuer und Flamme von der Magie der orientalischen Erzählkunst lauschte der junge Goethe fast atemlos; nur wenn sich der Erzählstrang von den eigenen Phantasien grob unterschied, blieb es nicht aus, dass er die Fabulierstund’ mit gerunzelter Stirn und verstimmten Gemüt verließ. Die Natur Goethes, dominant ging es um's eigene Gedankenwerk, war jedoch um Abhilfe nicht verlegen.
Am Folgetag ergriff er sodann beherzt die Initiative und fabulierte der Großmutter seine veränderte, stimmige Version ins Ohr. Abgesehen von solchen Divergenzen genoss er die mütterliche Vorliebe fürs kindliche Erzählen und das Verzaubern der Wirklichkeit. Vom Vater hab' ich die Statur / Des Lebens ernstes Führen / Von Mütterchen die Frohnatur / Und Lust zu fabulieren schwärmt er später.
Lebensbuch und Lebenswerk
Die Kunst zu fabulieren, das ist bekannt, wurde dem Dichterfürsten mit in die Wiege gelegt. Und so gibt es kaum Abschnitte in Goethes Leben, in denen er dieser Leidenschaft keine absolute Priorität zukommen ließ.
Das Jahr 1823 geht mit gesundheitlichen Beschwerden einher und der mittlerweile 74-jährige Dichter ist ans Bett gefesselt und muss sich notgedrungen einer Schaffenspause unterziehen. Es ist genau um diese Zeit gewesen, in der ihm der Breslauer Verleger Cotta, der von der Orientliebe Goethes bestens unterrichtet war, die erste vollständige, deutsche Übersetzung der orientalischen Märchen zum Geschenk machte.
Diese Ausgabe basierte auf einem Manuskript, welches der Orientalist Joseph von Hammer von einem Konsul in Kairo zur Verfügung gestellt bekommen hatte und das unter dem Titel Alf layla wa-layla als vollständige Version verstanden wurde. Die Übersetzung der französischen Version Hammers ins Deutsche initiierte der Cotta-Verlag und ermöglichte somit eine Erweiterung des Märchenbandes um Gedichteinlagen und Reimprosa.
Den unübersehlichen Reichtum verschlingt Goethe regelrecht, um sich kurz darauf mit kraftvoller Muse und einem Kopf voll Zauberei, Magie und Illusion dem zweiten Teil seines Faust-Dramas zu widmen. Sechs Jahrzehnte und die Neuentdeckung seines Lebensbuches bedarf es, bis Goethe kurz vor seinem Ableben das Faust-Drama, sein Lebenswerk, zu einem Ende bringt.
Es kann mit ziemlicher Gewissheit behauptet werden, dass wir heute vermutlich nicht in den Genuss des vollständigen Faust-Dramas gekommen wären, hätte er nicht die überarbeitete Ausgabe der orientalischen Märchen in seine Finger bekommen.
Warum soll er sich scheuen Blumen zu nehmen, wo er sie findet? Nur durch die Aneignung fremder Schätze entsteht ein Großes, erklärt Goethe im Dezember 1824 in einem Gespräch mit seinem engen Freund Friedrich von Müller. Denkt man über diesen Ausspruch genauer nach, bemerkt man schnell, dass es sich hier um einen Analogieschluss Goethes handelt. Oder präziser, um eine Einladung: sich fremder Kunst zu bedienen, sich von Kopf bis Fuß inspirieren zu lassen, Motive und Narrative in sich aufzusaugen, um daraus schlussendlich neues Schaffen zu schöpfen.
Magie und Illusion im Krankenbett
Und nichts anderes tut er. Bei Shakespeare, in der Bibel, Hafez und zu guter Letzt, unermüdlich und immer wieder aus den orientalischen Erzählungen aus "Tausend und eine Nacht". Es geht keineswegs ums Kopieren, sondern viel tiefer, das Erkennen gelungener, wenn nicht sogar genialer Techniken und Motive, den Blick für das Besondere und die Gabe, das vom Anderen kreierte weiterzuspinnen, Perspektivwechsel einzuleiten, um diese dann auf die Spitze der eigenen Produktionen zu treiben.
Goethe versteht die Kunst und macht sich erneut ans Werk. Mephistopheles dominiert als Erzählender in Faust, schlüpft mit seiner teuflischen Ader in sein engelsgleiches, orientalisches Antonym, der schönen Scherezade. Traum- und Zaubersprüche gehen Goethe nur so von der Hand, nachdem er all die Magie und Illusion im Krankenbett in sich aufgenommen hatte - der zweite Faustteil wird daher vom Übernatürlichen dominiert, ganz seiner orientalischen Inspirationsquelle entsprechend.
Dem Leser mag es zuweilen schwer fallen; das lockere Gefüge der Märchen projiziert Goethe in seinen zweiten Faust und lebt die wieder gewonnene Begeisterung der so geliebten Fabuliertechnik vollends aus, zelebriert sie bis zur Ekstase.
Der zweite Faust ist daher kaum stringent, unterscheidet sich stark in Stil und Narrativ vom ersten Teil, ist teilweise verwirrend und erschwert das Leseverständnis. Dennoch bleibt es ein Meisterwerk, sein Meisterwerk, das ihn fast bis zum Tod begleitet hat und das wir heute noch zu Recht feiern.
Ein Hoch auf Katharina Mommsen
Im Laufe meiner Beschäftigung mit dem Dichter und seinem Orient habe ich eine Seele ganz besonders schätzen gelernt und deshalb soll ihre Arbeit hier unbedingt Erwähnung finden.
Es gibt wenige Menschen, die sich so intensiv mit Goethe, seinen Werken und Lebenslinien, Eigenarten und insbesondere seiner Orientbegeisterung auseinandergesetzt haben, wie die heute 90jährige Literaturwissenschaftlerin Katharina Mommsen.
Es verlangt einem Hochachtung und große Wertschätzung ab, mit welcher Detailgenauigkeit sie sich diesem großen Meister zu nähern weiß und welcher philologischen Präzision sie sich in dieser Auseinandersetzung bedient.
Melanie Christina Mohr
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