"Verhindert nicht die Scheidung, sondern den Mord!"
Noch nie wurden so viele Morde an Frauen verzeichnet wie in den letzten Jahren. Die Plattform Kadın Cinayetlerini Durduracağız (Wir werden die Frauenmorde stoppen) ist eine der unabhängigen Frauenorganisationen, die die Morde an Frauen dokumentiert. Ihren Angaben zufolge wurden allein im Jahr 2015 insgesamt 303 Frauen umgebracht; mehr als in den Jahren davor.
In den letzten fünf Jahren kamen über 1.000 Frauen durch männliche Gewalt um. In den meisten Fällen ging sie vom Ehegatten oder früheren Ehemann, Partner oder einem männlichen Familienangehörigen aus.
Ende Februar hatte ein tragischer Selbstmord die Öffentlichkeit in der Türkei erschüttert: Die Gymnasiastin Cansel K. hatte sich in der Wohnung ihrer Eltern im anatolischen Kayseri mit der Dienstwaffe ihres Vaters in den Kopf geschossen. Der vermeintliche Grund: Die 17-Jährige war von ihrem Mathematiklehrer, dem 40-jährigen Familienvater, Bayram Ö. vergewaltigt worden. Derzeit ermittelt die Staatsanwaltschaft. Unter dem Hashtag #canselicinsusma (Schweige nicht für Cansel) verleihen Hunderte von Menschen ihrer Empörung Ausdruck, verurteilen ihren Tod als Mord und fordern für den Lehrer die gesetzlich vorgesehene Strafe für Vergewaltiger.
Soziale Medien als Mittel im Kampf für Frauenrechte
Immer häufiger werden in der Türkei die sozialen Medien als Mittel im Kampf für die Frauenrechte genutzt. So rufen Frauen unter dem Hashtag #sendeanlat (Erzähl auch du) dazu auf, ihr Schweigen zu brechen und ihre Erfahrung mit sexueller Gewalt öffentlich zu machen.
Die bislang größte Onlineaktionmit über einer Million Unterzeichner ist die von der Studentin Gözde Salur initiierte Petition #özgecanyasasi (Özgecan-Gesetz), adressiert an das Ministerium für Familie und Soziales. Die Unterzeichner fordern die Implementierung gesetzlicher Regelungen.
Strafmilderungen etwa wegen "Provokation" oder "gutem Verhalten", welche die Hemmschwelle von Gewalt und Ausbeutung deutlich senken, soll ein Riegel vorgeschoben werden. Außerdem soll das Gesetz 6284 zum Schutz der Familie und der Verhinderung von Gewalt gegen Frauen ohne Einschränkung angewandt werden.
Im Februar 2015 hatte ein Busfahrer im südostanatolischen Mersin versucht, die Psychologie-Studentin Özgecan Aslan zu vergewaltigen. Dann ermordete er sie. Özgecan wurde zum Symbol des Widerstands gegen männliche Gewalt, manche forderten eine lebenslange Haftstrafe für den Täter oder gar die Wiedereinführung der Todesstrafe für Sexualstraftäter.
Die Türkei war im August 2014 das erste Land, das den sogenannten Istanbul-Vertrag unterzeichnete. Hierin verpflichten sich die unterzeichnenden Staaten, Frauen zu schützen und gegen Zwangsheirat, Frauenbeschneidung und sogenannte Ehrendelikte vorzugehen.
Verschiedene Formen der Gewalt gegen Frauen
Dass es in der Türkei bis dahin noch ein weiter Weg ist und die verzeichneten Morde nur die Spitze des Eisbergs von meist häuslicher Gewalt gegen Frauen sind, wissen die Sozialarbeiterinnen und Anwältinnen der NGO Mor Çatı (Lila Dach) in Istanbul sehr gut. Seit den 1990er Jahren bietet die Organisation Frauen, die Gewalt innerhalb der Familie erfahren haben, psychologische, rechtliche und soziale Hilfe. Außerdem betreibt sie ein Frauenhaus.
Hier arbeitet Selime Büyükgöze. "Anders als zu erwarten wäre, sind es nicht nur Frauen aus armen und bildungsfernen Schichten, die sich an uns wenden", erzählt sie. "Die Art der Gewalt ändert sich je nach gesellschaftlicher Schicht. Je höher der Status, desto komplexer und 'kultivierter' wird die Gewalt und ist dementsprechend schwieriger zu benennen", so ihre Erfahrung.
Hazal Günel ist Sozialarbeiterin. "Oft haben Frauen, die zu uns kommen, einen Spießrutenlauf hinter sich", erzählt sie. "Sie werden von der Polizei, bei der sie Anzeige erstatten müssen, um im Frauenhaus aufgenommen zu werden, entmutigt." Ihnen wird empfohlen, zu ihren Ehemännern zurückzukehren, da ihnen sonst die Kinder weggenommen würden, hieße es dort oft. Bringen die Opfer trotz aller Hürden ihren Fall vor Gericht, hängt das Urteil nicht selten von der Willkür des Richters ab.
Die Auseinandersetzung mit Richtern und Staatsanwälten ist Teil der täglichen Arbeit von Anwältin Perihan Meşeli. Noch immer kämpft sie gemeinsam mit ihren Kolleginnen gegen ein Verständnis, das den Geschlechtsakt als Pflicht der Frau begreift. Häufig würden die Frauen als Schuldige betrachtet, bis das Gegenteil bewiesen sei. "Du hättest ihn eben nicht provozieren sollen", hieße es häufig. Das Problem seien nicht die Gesetze, sondern die Inkonsequenz bei deren Anwendung, so die Anwältin.
Besonders bei Regulierungen zur Strafmilderung trete der herrschende Sexismus zutage. So kann wegen "unrechtmäßiger Erregung" – der Mann gibt etwa an, seine Frau habe sich aufreizend angezogen – die Strafe gemildert werden. Auch kann ein Sexualstraftäter mit "gutem Benehmen" vor Gericht eine Milderung seiner Strafe erlangen. Dagegen scheitern Regulierungen zum Schutz der Frau wie Anonymität bei Behörden oder einstweilige Verfügungen oft an ihrer Durchsetzung.
Verstärkte Atmosphäre der Ungleichheit
Unter der seit 14 Jahren regierenden AKP hat sich die Atmosphäre der Ungleichheit der Geschlechter noch weiter verstärkt, davon sind die Frauen überzeugt. Äußerungen wie die von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, eine Frau solle drei, wenn nicht gar fünf Kinder gebären oder die des ehemaligen stellvertretenden Ministerpräsidenten Bülent Arınç, eine Frau dürfe in der Öffentlichkeit nicht laut lachen, stärken die patriarchalische Dominanz in der Gesellschaft, die Männern Straftaten häufig milde durchgehen lässt.
"Die AKP versucht die Familie zu stärken", so die Anwältin Perihan Meşeli, "doch was sie dabei übersieht ist, dass in 90 Prozent der Fälle die Familie der Hort der Gewalt ist. Darum sagen wir: Verhindert nicht die Scheidung, sondern den Mord!"
Auch nach Meinung der Organisation Kadın Cinayetlerini Durduracağız (Wir werden die Frauenmorde stoppen) ist die Politik der Regierungspartei verantwortlich für die gegenwärtige Situation der Frau, aber auch für die bürgerkriegsähnlichen Verhältnisse in Teilen der Türkei. Frieden, so die NGO, sei jedoch notwendig für die Durchsetzung der Frauenrechte.
Radikale Strafen wie manche Frauenorganisationen sie fordern, lehnen die Frauen von Mor Çatı ab. Sie sind vielmehr davon überzeugt, dass die ausnahmslose Anwendung der bestehenden Gesetze genug Abschreckung wäre.
Ceyda Nurtsch
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