Wahrhafte Legenden
Tengour, der 1947 in Algerien geboren wurde, aber schon als Zwölfjähriger seinen Eltern nach Paris folgte, hat sich früh mit Surrealismus, Symbolismus und automatischer Schreibweise beschäftigt. Sein poetisches Werk ist einzigartig und lässt sich, wie die Übersetzerin Regina Keil-Sagawe in ihrem Nachwort schreibt, "als poetisch verfremdete Chronik des postkolonialen Algerien lesen". Für Tengours Stil hat die Literaturwissenschaft eigens der Begriff "Soufialism" geprägt: ein "Mix aus Surrealismus und Sufismus".
Demzufolge können wir der Erzählung, die vom "Alten vom Berge" handelt, nicht einfach wie in einem historischen Roman in die ferne Zeit des Mittelalters folgen. Der Ich-Erzähler spaziert vielmehr durch das heutige Paris: "Gleich die erste Straße, wenn man vom Uferweg hochkam, führte nach Alamut, einem Abrissviertel", so beginnt das erste Kapitel. Es begegnen sich drei Freunde, die zusammen eine Bar besuchen, die denselben Namen "Alamut" trägt. "Sie spielten Flipper, tranken viel und beschrieben in blitzenden Worten ihre Zukunft".
Einblicke in die Verfasstheit menschlicher Hybris
Dennoch befinden wir uns im Mittelalter und haben hier schon die Ebene der Legende betreten. Denn hinter den Freunden verbergen sich historische Persönlichkeiten. Der eine von ihnen, Hassan-i Sabbah, gründet 1090 in der Bergfestung Alamut die berüchtigte Sekte der Assassinen, die der Legende nach zahllose terroristische Attentate verübten. Auch die anderen beiden, Omar Khayyam (der dichtende Mathematiker) und Nizam al-Mulk (der pragmatische Politiker) sind bereits mit gemeint, wenn die drei Freunde in Paris fröhlich ihr Freundschaftsbündnis begießen.
Tengour weigert sich den historischen Stoff als Roman zu erzählen, er ist nicht an epischer Breite und psychologisierender Legendenerzählung interessiert, vielmehr legt er Spuren in die sagenumwobene Vergangenheit und gewährt uns an Hand der Begebenheiten blitzartige Einblicke in die Verfasstheit menschlicher Hybris, selbstgewählter Einsamkeit und vergeblicher Liebe, worin sich wiederum an vielen Stellen im Text Gegenwartskritik verbirgt.
So entsteht in einer poetisch verdichteten Form eine irritierende Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart. Tengour bedient sich einer "Vexiertechnik des Spiegelns und Ineinandergleitens von Orten und Zeiten", wie es in Keil-Sagawes klugem Nachwort heißt.
"Omar kaufte Beignets und spendierte zwei Runden Tee.
Sie waren die einzigen.
Dann trennten sich ihre Wege.
Hassan nahm ein braunes Taxi nach Ghom. Abu Ali (gemeint ist Nizam al-Mulk) den Bus nach Bagdad.
Omar war noch in Nischapur, als der Tag anbrach".
Wo sind wir – und wer spricht?
Dies führt beim Lesen zwar manchmal zu Irritationen und Rätselraten. Wo befinden wir uns? Wer spricht? (Die Erzählperspektive changiert zwischen Er und Ich), dennoch wird uns die Spannung, die zwischen den Protagonisten besteht, und ihr eigener innerer Antrieb innerhalb des Freundschaftsbündnisses durch die sprachlich verdichtete Form nach und nach immer anschaulicher.
Wir gelangen zwar nicht zu Erkenntnissen historischer Details, erfahren nichts über blutige Anschläge und kriegerische Auseinandersetzungen, erleben keine religiösen Fanatiker und militärischen Anführer – der Autor setzt vielmehr das historische Geschehen als bekannt voraus. Doch dafür lässt uns der poetische Blick des Erzählers immer wieder Bezüge zur Gegenwart herstellen, indem er das vergangene Geschehen und die legendenartigen Begebenheiten im Heute spiegelt.
Jeder der drei schlägt einen eigenen Weg ein, den der Erzähler an den wechselnden Lebensstationen punktartig beleuchtet. Hassans Haschisch rauchende Assassinen-Sekte vergrößert ihren mörderischen Einfluss immer mehr, er selbst ist von Machtphantasien erfüllt und wird schließlich zum Mörder seines Freundes Nizam al-Mulk.
"Ich war nirgendwo. Die Welt erstorben"
Der Mathematiker Omar Khayyam, die Hauptfigur im Text, führt dagegen ein isoliertes, einsames Leben in Nischapur und widmet sich vor allem seiner Dichtung, die bis heute in der persischen Literaturgeschichte einzig dasteht. Dabei drückt Khayyam das aus, was das Exil für den Dichter bedeutet: "Ich war nirgendwo. Die Welt erstorben". Diese Grunderfahrung durchzieht das Gesamtwerk Tengours, der von sich sagt: "Das Exil ist mein Beruf". (So heißt es im Nachwort, das sich als kundiger Führer durch den oft kryptischen Text erweist.)
"Der Alte vom Berge" geht in seiner Textgestalt ursprünglich auf ein Buch des Autors von 1983 zurück; 2008 ergänzte er es durch den Essay "Nacht mit Hassan", das auch den (kürzeren) zweiten Teil des vorliegenden Bandes bildet. Darin schildert der Erzähler seine Anfänge als junger Dichter in Algier, als er während seines Militärdienstes in Algerien immer wieder in die Hauptstadt kam und durch die Kneipen zog, auf der Suche nach Stoffen für seine Gedichte und Prosatexte.
Wir erfahren von seinen literarischen Einflüssen (von islamischer Mystik bis hin zu Borges) und wie wichtig für ihn der Film wurde, von dessen Collage- und Schnitttechniken er sich manche Anregungen holte.
Großen Verdienst hat sich Regina Keil-Sagawe erworben, die den sperrigen, radikal subjektiven Text mit all seinen intertextuellen Verweisen unangestrengt (aus dem Französischen) überträgt und im Nachwort kommentiert, ohne ihm seine Geheimnisse zu nehmen. Der Text, so sagt sie zurecht, entführt uns "ins Dickicht der Sprache" und hat auch nach über dreißig Jahren "keinen Staub angesetzt".
Volker Kaminski
© Qantara.de 2020
Habib Tengour: "Der Alte vom Berge", Sujet Verlag 2019, aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe, 2019, 196 Seiten, ISBN: 978-3-96202-015-6