Der neue Saladin

Die Hagia Sophia hat er schon in eine Moschee zurückverwandelt, nun hat Erdoğan die Al-Aqsa-Moschee im Visier. Warum der Ruf nach der "Befreiung der Al-Aqsa" in der Türkei zur Staatsideologie erhoben wird, erklärt Joseph Croitoru.

Von Joseph Croitoru

Die Rückverwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee war ein spektakulärer Schritt. In den Augen der einen ein Frevel an der öffentlich zugänglichen Kunst, den Fresken, der Architektur, für den türkischen Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan aber eine "Wiederauferstehung", ja, ein "Vorbote" für die Befreiung der nächsten Stätte, die der Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem.

Erdoğan gebrauchte den türkischen Begriff "Mescid-i Aksa", der ähnlich wie die arabische Bezeichnung "Al-Masdschid Al-Aqsa" längst nicht nur die Moschee meint, sondern das gesamte Tempelberg-Plateau. Die Bezeichnung wird der früher geläufigen "Al-Haram Al-Scharif" (ehrwürdiges Heiligtum) auch deshalb vorgezogen, weil sie im Koran im Zusammenhang mit Muhammads nächtlicher Reise von Mekka nach Jerusalem erwähnt ist.

Diese Rhetorik zielt nicht nur darauf, den Muslimen stärker ins Bewusstsein zu rufen, dass die Jerusalemer Stätte der drittheiligste Ort im Islam ist. Ihre konsequente Verwendung ist auch Teil einer globalen muslimischen Kampagne, die zum Schutz des Ortes vor israelischer Kontrolle aufruft.

Kampagne zur "Befreiung der Al-Aqsa"

Türkische Islamisten haben sich der Kampagne schon vor Jahren angeschlossen und werden vom türkischen Staat und ihm nahestehenden Stiftungen unterstützt. Dass der in diesen Kreisen schon länger vernehmbare Ruf nach der "Befreiung der Al-Aqsa" nun auch vom türkischen Staatschef höchstpersönlich artikuliert wird, hat dieses Begehren zur offiziellen Staatsideologie erhoben.

Erdoğans Al-Aqsa-Parole wird denn auch über sämtliche Kanäle verbreitet. Schon am Tag der Umwidmung der Hagia Sophia prangte sie auf Plakaten, die von der staatsnahen "Türkischen Jugendstiftung" in verschiedenen Städten aufgestellt wurden. Die Aktivisten der Stiftung, in deren Aufsichtsrat Erdoğans Sohn Bilal sitzt, verteilten Süßigkeiten an Moscheebesucher und Passanten, die sie zur "Wiederauferstehung" der Hagia Sophia beglückwünschten - und zur baldigen "Befreiung der Al-Aqsa".

Letztere verkündet jetzt auch Ali Erbaş, seit September 2017 Präsident der türkischen Religionsbehörde Diyanet. Gleich nach seinem Amtsantritt schmückte Erbaş seine Twitter- und Facebook-Seite ostentativ mit einem Foto vom Tempelberg-Areal - von Osten her aufgenommen, aus dem besetzten Teil der Stadt. So vermied er, dass die von den Juden frequentierte Klagemauer ins Bild rückt. Diese Perspektive steht im Einklang mit der islamistischen Leugnung des jüdischen Anspruchs auf den Tempelberg.

Erbaş' Vorgänger Mehmet Görmez agitiert für Al-Aqsa und kann sich eines spektakulären Auftritts auf dem Jerusalemer Moscheenareal rühmen. Im Mai 2015 hatte Görmez in der Al-Aqsa-Moschee eine flammende Predigt auf Arabisch gehalten, die vom staatlichen türkischen Fernsehsender Diyanet-TV ausgestrahlt und als "historisch" gefeiert wurde. Darin pries er seine palästinensischen Gastgeber für ihren "heiligen Krieg zur Verteidigung der gesegneten Al-Aqsa-Moschee" und appellierte an die Muslime in aller Welt, die Palästinenser zu unterstützen.

Türkische Nationalfahnen vor dem Felsendom

Die türkische Al-Aqsa-Kampagne gewann deutlich an Schwung, als Erdoğan nach der Anerkennung Gesamtjerusalems als Hauptstadt Israels durch die Trump-Regierung im Dezember 2017 aus Protest alle Muslime aufrief, den Tempelberg zu besuchen. Nun reisten vermehrt türkische Pilgergruppen dorthin, die vor dem Felsendom demonstrativ türkische Nationalfahnen und Poster mit Erdoğans Konterfei hochhielten. Auch Türken aus Deutschland schlossen sich dem an.

Die israelische Polizei reagierte prompt und untersagte den türkischen Touristen, auf dem Berg politische Symbole zu zeigen und den roten Fes, die osmanische Kopfbedeckung, zu tragen. Als belgisch-türkische Besucher sich dem Verbot widersetzten, wurden sie festgenommen und des Landes verwiesen. Aufsehen erregte im Sommer 2018 der Fall einer 80-köpfigen muslimischen Pilgergruppe aus der Türkei, der am Ben-Gurion-Flughafen die Einreise nach Israel verweigert wurde.

Doch auch solche Maßnahmen können offensichtlich nicht verhindern, dass sich das Beziehungsnetz zwischen Türken und Palästinensern insbesondere in Ostjerusalem immer weiter verdichtet. Der Schulterschluss wird in Israel besonders von rechtsgerichteten Medien mit Argusaugen verfolgt, und die schlugen unlängst Alarm: Man warnte vor einem "türkischen islamischen Zentrum" nahe am Tempelberg, das gar zum "Stützpunkt des revolutionären Islam im Herzen Jerusalems" erklärt wurde.

Die Wirklichkeit ist allerdings weit weniger spektakulär. Es handelt sich um einen Laden im muslimischen Viertel unweit der Klagemauer, dessen palästinensischer Besitzer Emad Abu Khadija vor einigen Jahren bei Bauarbeiten zufällig auf Gewölbe aus der Ayyubiden-Zeit (1171 bis 1252) stieß, deren Restaurierung von der mächtigen türkischen staatlichen "Agentur für Zusammenarbeit und Koordination" (TIKA), die zahlreiche Hilfsprojekte in den Palästinensergebieten unterhält, unterstützt wurde. Heute beherbergen die Räumlichkeiten neben einem Souvenirladen auch ein Esslokal, das vor allem auch bei türkischen Touristen beliebt ist.

Palästinensisch-islamischer Lokalpatriotismus

In der Türkei hatten regierungsnahe Medien schnell die Geschichte aufgegriffen und berichtet, dass Abu Khadijas "archäologische" Entdeckung ihn mit den israelischen Behörden in Konflikt brachte, deren angemeldete Besitzansprüche er jedoch abwehren konnte. Von diesem Erfolg wie von seiner Ablehnung angeblich millionenschwerer Kaufangebote für sein Lokal pflegt Abu Khadija gerne zu erzählen, und er versteht es bestens, Geschäftliches mit palästinensisch-islamischem Lokalpatriotismus zu verbinden. So nennt er in Anlehnung an die arabische Bezeichnung für Karawanserei (Chan) seinen Laden, dessen Schild eine Silhouette des Felsendoms ziert, inzwischen "Khan Abu Khadija".

AKP-Anhänger vor der Hagia Sophia im Istanbuler Stadtteil Sultanahmed; Foto: Reuters
Staatlich verordneter Neo-Osmanismus: Bereis die Rückumwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee im Juli 2020 stieß international auf Kritik. Nun wird Erdoğans neue Al-Aqsa-Parole über sämtliche Kanäle verbreitet. Schon am Tag der Umwidmung der Hagia Sophia prangte sie auf Plakaten, die von der staatsnahen "Türkischen Jugendstiftung" in verschiedenen Städten aufgestellt wurden.

All das kommt bei frommen türkischen Reisegästen offenbar auch deshalb gut an, weil ihnen das "Khan", das sie für ein Bauwerk der Osmanen halten, ein vertrautes Ambiente mit entsprechendem neo-osmanischen Dekor bietet. Konterfeis von Sultan Abdülhamid II. und Erdoğan, rote Fese und türkische Nationalfahnen. Zu dieser Kulisse hat auch schon mal eine Fahne der TIKA-Agentur gehört, die von den Israelis entdeckt und als ultimativer Beweis für die Einmischung Ankaras präsentiert wurde. Auch deshalb hat Abu Khadija eine in die Wand eingelassene Marmortafel, auf der TIKA ihre Unterstützung für das palästinensische Volk bekundet, inzwischen mit einem Tuch mit Koranversen verhängt.

Saladin-Analogie unter AKP-Anhängern

Die türkische Kampagne für Al-Aqsa dient auch der Verbreitung des staatlich verordneten Neo-Osmanismus. Der Istanbuler Verein "Mirasimiz" (Unser Erbe) bemüht sich um den "Schutz und die Erhaltung des osmanischen Erbes in und um Jerusalem". Als kultureller Widerstand gegen die israelische Besatzung und die fortschreitende "Judaisierung" Ostjerusalems sieht man bei Mirasimiz die Restaurierung von Sakralbauten der osmanischen Ära, die der Verein im Verbund mit der türkischen staatlichen "Agentur für Zusammenarbeit und Koordination" finanziell und logistisch unterstützt.

Die Vereinszeitschrift Minber-i Aksa (Al-Aqsa-Kanzel) lenkt kontinuierlich die Aufmerksamkeit auf das osmanische Erbe in Palästina, verklärt aber im Fall des Tempelbergs die dortigen Leistungen osmanischer Herrscher als Bauherren und Hüter der Heiligtümer. Immer wieder werden die von ihnen errichteten Kleinstbauten vorgestellt.

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan; Foto: Getty Images/AFP
Gewagte politisch-religiöse Neuorientierung: Sein national-islamisches Klientel, auf dessen Wählerstimmen er in der derzeitigen Wirtschaftskrise mehr denn je angewiesen ist, bedient Erdoğan mit markigen Sprüchen über die Wiederherstellung islamischer Größe bis hin zur "Befreiung" der Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem. Dabei hat der Präsident in der arabischen Welt kaum Freunde. Lob für seinen Hagia-Sophia-Kurs erhielt er dort vor allem von islamistischen Wortführern und der Hamas.

Dass die Al-Aqsa-Moschee und der Felsendom in spätosmanischer Zeit stark vernachlässigt wurden, erfährt man hier nicht. Dafür wird, wie im jüngsten Heft von Minber-i Aksa eingehend über die Restaurierungsarbeiten der Al-Aqsa-Moschee berichtet, vor allem über die Arbeiten 1922 bis 1925 des in Berlin ausgebildeten türkischen Architekten Mimar Kemaleddin. Dass auch ägyptische und britische Experten an dem Projekt maßgeblich beteiligt waren, wird ausgeklammert, gern aber hervorgehoben, dass Kemaleddin von den Briten für seine Arbeit ausgezeichnet wurde.

Bei der türkischen Al-Aqsa-Kampagne tut sich auch der ebenfalls in Istanbul ansässige Verein "Minber-i Aqsa" hervor - nur einer von einer wachsenden Zahl türkischer regierungsnaher Organisationen und Medieninitiativen, die sich für das islamische Jerusalem engagieren. Seit etwa drei Jahren versucht "Minber-i Aqsa" Rechtsgelehrte aus möglichst vielen islamischen Ländern für die türkische Kampagne zu gewinnen. Auf einer einschlägigen internationalen Konferenz in Istanbul im Sommer 2018 mit 400 Teilnehmern beschwor der Mufti der Stadt, Hasan Kamil Yilmaz, die Vision eines neuen Saladin, der das "usurpierte" Jerusalem bald befreien werde.

Der Istanbuler Mufti mag dabei an Erdoğan gedacht haben, aber bislang haben sich Staatsbeamte und AKP-Funktionäre mit Erdoğan-Saladin-Vergleichen zurückgehalten. Als vor der Wiedereröffnung der Hagia Sophia als Moschee der AKP-Politiker und Direktor der Kreisverwaltung Iznik (Provinz Bursa), Halil Ibrahim Gökbulut, vor Betenden Erdoğans Al-Aqsa-Parole zitierte und den Staatspräsidenten als "Saladin der Umma" (Saladin der Gemeinschaft der Muslime) bezeichnete, hatte dies für die oppositionelle kemalistische Zeitung Sözcü fast schon Sensationswert.

In den türkischen sozialen Medien ist die Saladin-Analogie unter AKP-Anhängern allerdings weit verbreitet - ebenso das Kopfschütteln darüber bei ihren Gegnern.

Joseph Croitoru

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