Déjà-vu in Tripolis

1816 wurde eine Sammlung von Briefen der Schwägerin des britischen Konsuls in Tripolis veröffentlicht. Miss Tully verfasste in ihrer "Erzählung über einen zehnjährigen Aufenthalt in Tripolis, Afrika" von 1783 bis 1793 über 100 Epistel, mit denen sie ein sehr lebendiges Bild der Region zeichnete. Von Sherif Dhaimish

Von Sherif Dhaimish

"Bei der Einfahrt in die Bucht von Tripolis, einige Meilen vor der Küste, wird der Eindruck des Landes von einer Vielzahl malerischer Grüntöne geprägt: Nichts stört die Gleichmäßigkeit des Erdbodens, der von heller, fast weißer Farbe ist und durch lange Reihen von Bäumen aufgelockert wird. Die zahlreichen Palmen sind regelmäßig gepflanzt und werden in makelloser Ordnung gehalten."

Konsul Richard Tully war ein naher Vertrauter des regierenden Pascha (Bashaw) und verbrachte sein Leben im Luxus der dortigen Aristokratie. Viele Jahre lang pflegten die Tullys enge Beziehungen zu den Herrschern des Landes. Und so konnte sich das Buch letztlich zur "einzigen genauen Beschreibung der privaten Umstände und des Verhaltens dieser afrikanischen Despoten, die jemals öffentlich gemacht wurde" entwickeln.

Wie alle anderen abendländische Besucher des Orients musste sich auch Miss Tully an die grundlegenden Lebensunterschiede dieser beiden Welten gewöhnen. Und ihre Briefe tragen bisweilen auf sehr klischeehafte, wenn auch unschuldige Weise zur erkenntnistheoretischen Definition dieser Gegenwelt Europas bei:

…Man lebt an einem Ort, wo die Spuren der alten Sitten nicht mehr vorhanden sind. Das Verhalten und die Gewohnheiten der Mauren und Araber sind hier mit ganz wenigen Ausnahmen durch primitives Benehmen geprägt.

Aufmerksame und detaillierte Beobachtungen

Trotz solcher Ansichten drückt die Verfasserin eine tiefe Zuneigung für Tripolis aus und betrachtet die kulturellen Charakterzüge und Eigenheiten ihrer neuen Heimat ebenso aufmerksam wie fasziniert. Tripolis wurde damals als der "zivilisierteste" der "barbarischen" Staaten betrachtet, zu denen auch Algiers und Tunis gehörten. Die Bevölkerung bestand aus Mauren, Arabern, Berbern, Osmanen, afrikanischen Sklaven und einer kleinen Anzahl Europäern. Sie alle lebten unter der Regentschaft von Bashaw Karamanli, der einer berühmten osmanischen Dynastie gehörte, die sich über die Jahre von 1711 bis 1835 erstreckte.

 Letters Written During a Ten Year's Residence at the Court of Tripoli, 1783-1795 (1816) by Miss Tully, Caroline Stone (Introduction)
Letters Written During a Ten Year's Residence at the Court of Tripoli, 1783-1795 (1816) by Miss Tully, with introduction by Caroline Stone (published by Hardinge Simpole, 2008)

Durch seine Lage wurde Tripolis zu einem Zentrum des Sklavenhandels. Nach monatelanger Reise trafen dort Karawanen aus dem Afrika südlich der Sahara ein, und "Schiffsladungen unglücklicher Schwarzer" wurden vom Hafen auf den Markt geführt, wo sie von reichen Kaufleuten zu Spottpreisen erworben wurden.

Mit Bestürzung schrieb Tully am 30. Januar 1788 über ihre Beobachtung einer "interessanten Zuneigung zwischen zwei Negern". Die herzzerreißende Geschichte zweier Liebhaber, die zur Trennung gezwungen wurden, wird von ihr als Krise der Menschlichkeit beschrieben, die zu dieser Zeit von den meisten anderen weitgehend ignoriert wurde. Obwohl sie in Tripolis unter Aristokraten lebte, war Tully gegenüber den unteren Klassen ebenso aufmerksam wie gegenüber den Herrschern.

Nur wenige Jahre nach Beginn ihrer Abenteuer wurde Tripolis von einer tödlichen Seuche heimgesucht, deren Auswirkungen noch viele Jahre später spürbar waren. Wie ein wütendes Feuer verbreitete sich die Krankheit in der Umgebung der Stadt, erreichte aber aufgrund der Größe der Sahara erst nach mehreren Jahren Bengasi und die Cyrenaika.

Als die Seuche dort erstmals im Jahr 1785 ausbrach, fielen ihr in nur zwei Monaten ein Viertel der 14.000 Einwohner von Tripolis zum Opfer. In diesem Zusammenhang zeigte sich Tully schockiert über die inkompetente ärztliche Versorgung der Kranken durch die Mauren. In Europa machte die Medizin zu dieser Zeit rapide Fortschritte. Aufgeklärte Ärzte operierten dort in neu errichteten Krankenhäusern, doch die Mauren nutzten weiterhin Feuer als "eines ihrer Hauptheilmittel" und verließen sich stark auf Rituale, monierte Tully:

Scheint ein Mensch kurz vor seinem Tod zu stehen, wird er sofort von seinen Freunden umringt, die auf die scheußlichste Weise zu schreien beginnen, um ihn davon zu überzeugen, dass es keine Hoffnung mehr gibt und er bereits zu den Toten gezählt wird! Es ist undenkbar, dass der bereits von der Krankheit geschwächte Patient durch den Lärm dieser furchtbaren Veranstaltung nicht schnell zu Tode gebracht wird. Leidet die sterbende Person (vielleicht durch einen Anfall) unter zu großen Schmerzen, geben sie ihr einen Löffel Honig in den Mund, der sie im Allgemeinen von ihrem Leiden erlösen soll.

Insider-Wissen

Second edition frontispiece (source: digitised by Google, original from the New York Public Library)
"Im Gegensatz zu vielen anderen literarischen Berichten über das afrikanische Leben des 18. Jahrhunderts waren Tullys Briefe nie zur Veröffentlichung bestimmt und erhielten auch nicht die gebührende Aufmerksamkeit von Kritikern und der Öffentlichkeit, die sie eigentlich verdient hätten", schreibt Sherif Dhaimish.

Tullys Anekdoten sind historische Berichte, deren unaufdringliche Erzählweise sie sowohl für Gelegenheitsleser als auch für Wissenschaftler umso attraktiver macht. Durch ihr Insider-Wissen über den Konsul und den Hof des Herrschers gewinnen ihre Erzählungen eine klare Gestalt, insbesondere dann, wenn Tripolis von einer Krise erfasst wird. Als im Jahr 1793 eine türkische Gesandtschaft landet, um den Bashaw zu entthronen, und der königliche Hof daraufhin ins Exil nach Tunis gehen muss, vertraut sie uns in ihren Briefen ihre Eindrücke über den Konflikt und das Chaos in der Stadt an:

Ali Ben Sul war immer noch an Bord, und immer wieder wurden Boten vom Schloss zu ihm und wieder zurück geschickt. Um sieben Uhr abends wurde es dann für nötig gehalten, dass wir das Angebot des Kommandanten annehmen und uns an Bord der Fregatte begeben…

Tully bezog sich dabei auf Ali Benghul, einen türkischen Offizier, der Tripolis im Jahr 1793 einnahm. Seine Ankunft bedeutete den Beginn größerer Ungewissheiten für die Region, weshalb sie der Region schließlich den Rücken kehrte und sich in Gibraltar niederließ. Zwei Jahre später kehrte Yusuf Karamanli aus Tunis zurück und erkämpfte sich den Thron, um die Karamanli-Dynastie fortzusetzen. Allerdings konnte er nicht in die Fußstapfen seiner erfolgreichen Vorgänger treten. Tripolitania begann sich aufzulösen, und nach der Abdankung Yusufs im Jahr 1832 brach ein Bürgerkrieg aus.

Im Gegensatz zu vielen anderen literarischen Berichten über das afrikanische Leben des 18. Jahrhunderts waren Tullys Briefe nie zur Veröffentlichung bestimmt und erhielten auch nicht die gebührende Aufmerksamkeit von Kritikern und der Öffentlichkeit, die sie eigentlich verdient hätten. Berührend ist insbesondere das immer wiederkehrende Thema der Flüchtlinge, die die Region Land verlassen mussten, und ihr Herz meist an der Küste des Mittelmeers zurückließen. 'Sidy Useph' (Yusuf Karamanli) hat ein unheimliches Erbe hinterlassen, mit dem die Welt in den letzten fünf Jahren nur allzu vertraut wurde:

[Er] riss das Land von innen her entzwei und setzte es einer Vielzahl von Wirren aus, die es seit langem zu einem Schauplatz von Mord und Verwüstung machen. Und im Moment ist kaum abzusehen, wann seine Tragödien zu einem Ende kommen.

Miss Tully, damit sprechen Sie uns aus der Seele.

Sherif Dhaimish

© Qantara.de 2016

Übersetzt aus dem Englischen von Harald Eckhoff