Grenzgänger zwischen Fantasie und Wirklichkeit

Stellen Sie sich ein Buch von mehr als 500 Seiten vor, in dem Handlung und Charaktere kaum eine Rolle spielen. Ein riesiges Museumswerk für mehrere Räume, das uns darum bittet, in Etappen gelesen zu werden. "Die Magier" des libyschen Autors Ibrahim al-Koni ist ein solches Buch. Von Marcia Lynx Qualey

Von Marcia Lynx Qualey

Im 19. und 20. Jahrhundert erlebte der Roman als literarische Gattung einen grandiosen Aufstieg. Doch indem dieses erfolgreiche literarische Genre in neue Bereiche und Sprachen vordrang, verdrängte es oft andere phantasievolle Prosa und konzentrierte den größten Teil der Aufmerksamkeit auf sich.

1960, als der große libysche Schriftsteller Ibrahim al-Koni als Jugendlicher Arabisch lernte, war der Roman als Gattung bereits fest etabliert. Doch Al-Koni, der in einem nomadischen Tuaregstamm aufwuchs, wollte die Erzählungen seiner Kindheit nicht in diese literarische Form zwängen. Vielmehr wollte er den Roman nach seinen Vorstellungen formen. Nach mehreren Versuchen erfand er eine neue, hybride Form, die mit seinem Epos Al-Majus voll zur Geltung kommt, das als Die Magier von Hartmut Fähndrich ins Deutsche übersetzt wurde und im Lenos-Verlag erschienen ist.

In der vorromanischen Prosa des Arabischen waren die meisten "Charaktere" weder wirklichkeitsnah noch besonders eigenständig. Sie mochten ein moralisches Problem oder eine philosophische Frage veranschaulichen oder sie mochten eine spannende Geschichte erzählen. Aber wir wissen nicht, ob Scheherazade und Shahryar unter Gicht litten, ihre Diener misshandelten oder mit ihren Müttern stritten. Dasselbe gilt für die Charaktere in Ibn Tufails sufistisch-philosophischem Werk Ḥayy ibn Yaqẓān (dt. Der Philosoph als Autodidakt).

Hybride Einflüsse

Al-Konis Roman entlehnt einige Elemente aus Ibn Tufails bahnbrechendem Text aus dem 12. Jahrhundert, andere aus der Tuareg-Folklore und wieder andere aus Herman Melvilles Moby Dick. Ähnlich hybrid war auch Al-Konis Kindheit. Er wurde 1948 unter den Tamasheq sprechenden Bevölkerungsgruppen in der westlichen libyschen Wüste geboren, kurz nach Einnahme dieser Region durch die Franzosen. Al-Koni lernte erst mit 12 Jahren Arabisch, machte sich aber schnell mit der Sprache vertraut.

Buchcover Ibrahim al-Koni: "Die Magier: Das Epos der Tuareg" im Lenos-Verlag
Ibrahim al-Konis "Die Magier" ein riesiges Museumswerk für mehrere Räume. Es bittet uns darum, in Etappen gelesen und durchleuchtet zu werden, während uns der heiße Wüstenwind eine Handvoll Sand in den Mund weht.

In den 1970er Jahren ging er nach Sowjetrussland, wo er vergleichende Literaturwissenschaft studierte. Dort beschäftigte er sich mit den Theorien des Romans, insbesondere denen des marxistischen Philosophen und Literaturkritikers Georg Lukács. Al-Koni arbeitete in Russland und Polen, verbrachte zwei sehr produktive Jahrzehnte in der Schweiz und zog schließlich nach Spanien, wo er heute lebt.

In der "Wüste des Geistes"

Doch wo immer Al-Koni auch gewesen ist, seine Romane entführen die Leser stets in die Red-Hamada-Wüste Libyens. Dies ist in erster Linie eine "Wüste des Geistes" – zumindest sagt das Al-Koni in seinen Interviews. Seine detailreich umgesetzten Erzählungen lassen dem Leser einen heißen Wüstenwind ins Gesicht wehen, der uns mit "drei Handvoll Sand pro Tag" füttert.

Dieser Wind könnte Sand in "makellose Falten" vor einem Zelt blasen, während er immer "neue Sandfedern ausbreitet und alte beseitigt[.]" Al-Koni ist auch ein Meister darin, den Gang eines Menschen zu beschreiben, der gegen die harten Wüstenwinde ankämpft.

Doch Al-Koni ist nicht nur an den Menschen in der Wüste interessiert. In Die Magier, wie in all seinen Werken, sind die Tiere und Pflanzen der Wüste tief fühlende Wesen.

Das Buch nähert sich den Wünschen der Pflanzen so einfühlsam wie denen des Menschen. Beispielsweise wenn die Akazienbäume "geduldig und niedergeschlagen" warten, bis "eine Brise aus dem Norden wehte und sie sie mit ihren Wipfeln einfingen, Feuchtigkeit aufnahmen und Leben daraus schöpften".

Das ist kein bloßer Anthropomorphismus. Vielmehr wird hier der Mensch als Teil der Wüstenlandschaft eingeordnet, nicht als dessen Mittelpunkt.

Von der Wüste reich beschenkt

Al-Koni erzählt uns im Nachwort des Buches, dass er 1987 als Vierzigjähriger zu Besuch in die Wüste zurückkehrte. Das erste Geschenk, das sie ihm machte, war sein schillernder Kurzroman Blutender Stein. Aus dem zweiten Besuch entstand Goldstaub. Auf seiner dritten Reise wurde er mit einem "noch größeren Schatz" belohnt: seinem Epos Die Magier, das als einer der großen arabischen Romane des 20. Jahrhunderts gefeiert wird.

Dieses Buch flechtet keine engen Beziehungen zwischen bestimmten Charakteren. Im Nachwort sagt Al-Koni, er wolle, dass der Roman außerhalb von Beziehungen existiere.

Das Buch bereitet uns darauf ab der ersten Szene vor, die auf einem Berggipfel beginnt, erzählt von einer namenlosen Figur, die sich von ihrem Körper "befreit" hat und das "ameisenhafte Umherwuseln" der Menschen tief unten beobachtet.

Wie "lächerlich und hässlich doch ihr Streben von weit oben erscheint!" Neben unserem Erzähler beobachten wir winzige Menschen, die einen kleinen Teil einer riesigen Wüstenlandschaft ausmachen.

Konflikt zwischen nomadischen und sesshaften Völkern

Es gibt hier einen Aspekt, der auf Ibn Khaldūn (1332-1406) verweist. Wie der große maghrebinische Philosoph in seiner Schrift Al-Muqaddimah verfolgt auch Al-Konis Roman die Generationenkämpfe der Menschen, insbesondere zwischen nomadischen und sesshaften Völkern. Das Werk ist gespickt mit der sufistisch-hegelianischen Dialektik von frei und versklavt, Nomaden und Sesshaften, Monotheisten und Animisten. Ereignisse sind oft magisch, aber das ist weniger ein magischer Realismus als ein mystischer, sufistischer.

Es ist ungewöhnlich, auf ein Buch mit mehr als 500 Seiten zu stoßen, bei dem Handlung und Charaktere kaum eine Rolle spielen. Die Magier ist ein solches Buch. Es gibt nur wenige Hauptfiguren: Musa (der auch als "der Derwisch" bezeichnet wird), Udâd (der durch die Wüstengipfel streift und dessen Name Berberschaf bedeutet), Âdda (normalerweise nur als "der Anführer" bezeichnet), Tênere (oft "die Prinzessin" genannt), Ânay (Têneres Onkel und der Sultan von Waw) und Okha, ein Adliger, der Udâds Rivale um Têneres Zuneigung ist.

Aber man könnte genauso gut sagen, dass es keine "Hauptfiguren" gibt und dass jeder – einschließlich der Akazienbäume, der Dschinns und der Wüstenechsen – gleichermaßen wichtig ist.

Wie ein riesiger Teppich

Al-Koni legt im Nachwort nahe, dass er sich für den Roman von einer Wette zwischen seinem Bruder und einem anderen jungen Mann inspirieren ließ, bei der dieser eine Felswand hinaufstieg. In Die Magier wird Udâd von Okha herausgefordert, eine ähnliche Felswand zu erklimmen. Sollte es Udâd schaffen, gewinnt er Têneres Herz. Aber diese Wette steht nicht im Mittelpunkt des Romans. Das Buch spannt keinen üblichen Bogen mit einem Handlungsstrang, der sich zu einem zentralen Höhepunkt aufschwingt, sondern ist wie ein riesiger, gemusterter Teppich.

Das bedeutet nicht, dass der Roman zeitlos ist, zumal wir gegen Ende einen zeitlichen Hinweis erhalten: "Seit mehr als einem Jahrhundert ragen die Ruinen der Stadt Waw über die Ebene. ... Dann spülte die große Flut von 1913 alle Gebäude weg, sodass nicht ein Stein auf dem anderen blieb." Es war 1913, als die italienische Armee gewaltsam eindrang und Ghadames einnahm, die Oasenstadt in der Nähe des Geburtsorts von Al-Koni.

Die Charaktere von Die Magier – die mehr als ein Jahrhundert vor der Ankunft der Italiener lebten – zeigen Interesse an der Welt außerhalb ihrer Wüste. Wir hören nichts von den osmanischen Herrschern, jedoch von der untergegangenen Almoraviden-Dynastie. Es werden Städte im Norden erwähnt und wir hören sogar von den Christen, allerdings nur dann, als die Familie eines Händlers entführt und in die Sklaverei verkauft wird.

Dieses Buch ist nicht für jeden Leser gedacht. Wenn man in Al-Konis kürzeren Werken Blutender Stein und Goldstaub kleine Gemälde sieht, die man an eine Wohnzimmerwand hängen kann, dann ist Die Magier ein riesiges Museumswerk für mehrere Räume. Es bittet uns darum, in Etappen gelesen und durchleuchtet zu werden, während uns der heiße Wüstenwind eine Handvoll Sand in den Mund weht.

Marcia Lynx Qualey

© Qantara.de 2019

Aus dem Englischen von Peter Lammers