Die Wiedergeburt des Tahrir-Platzes
Wer in diesen Tagen Ägypten besucht, wird ihn nicht mehr finden, den Ort, der zu einem Wahrzeichen für den Wandel in der arabischen Welt zu Beginn des neuen Jahrtausends geworden ist. Die Revolution, deren Funke von Tunesien aus auf die Städte Ägyptens, Libyens, Syriens, Bahrains und des Jemen übersprang, machte aus dem Tahrir-Platz ein Symbol für den Aufstand der Menschen in der arabischen Welt gegen ihre autoritären Regime. Es war ein Ort, an dem die Freiheit erprobt wurde, während die Ägypterinnen und Ägypter in den umliegenden Seitenstraßen Unterdrückung und Diktatur die Stirn boten.
Doch was ist aus ihm geworden? Fiel er, genauso wie die jungen Revolutionäre, den umfassenden Repressalien zum Opfer, die durch die nahezu unverhohlene Allianz des Militärrats und der Muslimbrüder entfacht wurden? Das Bündnis, eingegangen mit dem Ziel, die repressiven Kräfte zu konzentrieren, endete jedoch letztlich mit dem Putsch gegen die Muslimbrüder, der dem Militär erneut die Herrschaft über das Land sicherte.
Der Schein eines rechtsstaatlichen Anstrichs
In seinem einer Anklage gleichenden Roman "Republik als ob" schildert Alaa al-Aswani dieses blutige Kapitel der Geschichte des Tahrir-Platzes in einer Mischung aus Realität und Fiktion. Als Reaktion auf sein Werk wurde nicht nur umgehend vor einem Militärgericht Anklage gegen den Schriftsteller erhoben, der Roman, der bei "Dar Al Adab" in Beirut publiziert wurde, durfte gar nicht erst in Ägypten erscheinen.
Erst vor wenigen Tagen beschuldigte die ägyptische Schauspielergewerkschaft die beiden Schauspieler Amr Waked und Khaled Abol Naga des Hochverrats und entzog ihnen ihre Mitgliedschaft. Der Grund: Sie hatten während einer Konferenz in Washington, an der auch einige Mitglieder des amerikanischen Kongresses teilnahmen, die Verfassungsänderungen in Ägypten kritisiert. Die offizielle Erklärung über den Ausschluss, unterschrieben von Ashraf Zaki, dem Vorsitzenden der Gewerkschaft, folgte umgehend und ohne vorherige Untersuchung. Ein Vorgehen, das exemplarisch für den Willen der Machthaber steht, sich rechtsstaatlicher Regeln zu entledigen und ein Schlaglicht auf die Zustände im heutigen Ägypten wirft.
Es stellen sich in diesem Zusammenhang folgende Fragen: Auf was basiert hier der Vorwurf des Hochverrats? Und wie kann es sein, dass die Gewerkschaft, die ja eigentlich ihre Mitglieder verteidigen sollte, zum Richter wird und in Abwesenheit der Angeklagten ein Urteil fällt, ohne ihnen die Chance zu geben, sich zu äußern?
Doch diese Fragen sind wohl rhetorischer Natur, denn der Rechtsstaat mitsamt seinen Gesetzen und Prinzipien, die den Bürgerinnen und Bürgern Schutz bieten, ist der Feind aller autoritären Regime. Ihn zu zerstören und der Gesellschaft dadurch die Sicherheiten wieder zu nehmen, die sie sich mühsam erkämpfen musste, ist ihr dringlichstes Anliegen.
Und die Medien? Unfähigkeit und ein verblüffendes Talent, sich bei dem Versuch, die eigenen Widersacher in ein schlechtes Licht zu rücken, selbst lächerlich zu machen, sind die auffälligsten Merkmale der regimetreuen Medien in Ägypten. Der Gipfel der Absurdität ist erreicht, wenn ihre Talkshow-Moderatoren Anführungsstriche in die Luft malen, wenn sie von der Januar-Revolution sprechen und damit andeuten, dass es angeblich gar keine Revolution gegeben habe, sondern nur aufrührerische Tumulte, die die Armee im Rahmen ihres Krieges gegen den Terror unter Kontrolle bringen konnte!
Repression um der Repression willen
Mittlerweile scheint der zentrale Platz in Kairo in Lethargie versunken zu sein. Und nichts vermittelt mehr den Eindruck, als sei es jemals anders gewesen. Die Aktivisten, die ihn einst bevölkerten, sind heute entweder im Gefängnis, im Exil oder verstummt. Nur der Klang der Unterdrückung ist noch geblieben, denn der Rückschlag für die Bewegungen des Arabischen Frühlings führte geradewegs in eine neue Phase massiver Repression.
Die Vorstellung, der ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sisi könnte das Erbe Nassers fortführen, begann bereits mit der Abtretung der beiden Inseln Tiran und Sanafir an Saudi-Arabien zu bröckeln und erwies sich durch die militärische Kooperation mit Israel im Sinai endgültig als Luftschloss.
Ägypten steht allerdings nicht völlig allein für diese Entwicklung, auch andere Staaten des Arabischen Frühlings, die heute von autoritären Machthabern beherrscht werden, kennen nur ein Thema: nämlich für Sicherheit zu sorgen! Sie haben keine Vision außer der Repression um der Repression willen. Und nur durch direkte Unterdrückung können sie ihre Herrschaft sichern – allen Versuchen zum Trotz, durch politische und soziale Reformen Legitimität zu erlangen. Ein solches Schicksal erleiden derzeit nicht nur Syrien und das auseinanderfallende Libyen, sondern auch andere Staaten in der Region.
Das beste Beispiel für das Unvermögen der autoritären Regime ist gegenwärtig in Algerien zu beobachten. Symbolik und Realität verschwimmen hier auf eigentümliche Weise: Präsident Bouteflika hatte sich nicht nur politisch in Schweigen gehüllt, er ist nunmehr gänzlich verstummt. Auch die mächtigen Generäle und die Finanzlobby in seinem Umfeld scheinen - angesichts der Tahrir-Plätze Algeriens - wie gelähmt und schweigen.
Die Angst durchbrechen
Die Frage, was aus dem Tahrir-Platz geworden ist, wird momentan im Maghreb beantwortet. Mittlerweile finden wir ihn in Algerien genauso wie in Khartum und dieses Phänomen könnte sich wohl auch andernorts entfalten. Das Geheimnis des Arabischen Frühlings liegt wohl nicht in dessen Siegen oder Niederlagen, sondern in dessen Fähigkeit, den Menschen die Furcht zu nehmen. Auch wenn das Gemetzel in Syrien den Regimen als warnendes Beispiel dient, um die Menschen abzuschrecken ändert es doch nichts daran, dass die Mauer der Angst längst durchbrochen ist.
Es schien, als würde die Niederschlagung des Arabischen Frühlings den Verlust des gerade neu entdeckten Horizonts bedeuten. Als würde dieses Scheitern die Rückkehr der arabischen Welt unter das Joch autoritärer, ölfinanzierter Militärregime einläuten und sein Vermächtnis in den Mühlen des sunnitisch-schiitischen beziehungsweise des iranisch-saudischen Konflikts zerrieben werden.
Doch diese Niederlage bedeutet offensichtlich weder das Ende der Geschichte, noch kann sie den Weg für eine bessere Zukunft aufhalten. Die arabische Welt ist zwar an einem Tiefpunkt angelangt. Doch noch tiefer zu sinken, dürfte unmöglich sein. Ewig anhalten kann die derzeitige Misere aber auch nicht.
Der Prozess gegen den ägyptischen Schriftsteller Alaa al-Aswani, der Vorwurf des Hochverrats gegen Waked und Abol Naga, die Festnahme der jugendlichen Aktivisten vom Tahrir-Platz und die vielen Formen der Vertreibung, die aus den Menschen in Syrien Flüchtlinge gemacht hat, sind Teil einer Episode, die die arabische Welt derzeit erleiden muss: Der Geist der Freiheit, den damals der Tahrir-Platz entfesselte, sollte endgültig erstickt werden. Doch das ist ein Ding der Unmöglichkeit.
Der Geist der Freiheit benötigt allerdings einen tiefgreifenden gedanklichen Umbruch in der arabischen Welt. Es braucht neue Denkansätze, die aus den Aufständen des Arabischen Frühlings gegen die autoritären Regime ein moralisches, politisches und intellektuelles Projekt machen, das den Begriffen Freiheit, Demokratie und sozialer Gerechtigkeit wieder Bedeutung verleiht.
Elias Khoury
© Qantara.de 2019
Elias Khoury zählt zu den namhaftesten arabischen Intellektuellen der Gegenwart. Er war Mitherausgeber zahlreicher politischer Journale und für einige Zeit der künstlerische Leiter des Beiruter Theaters. Heute ist er leitender Literaturredakteur der Beiruter Zeitung "An-Nahar". Zu Khourys Werk zählen das auch auf Deutsch erschienene Buch "Der König der Fremdlinge" sowie "Bab Ashams", sein großer Roman über die Geschichte der Palästinenser, für den er 1998 den Palästina-Preis erhielt.
Aus dem Arabischen von Thomas Heyne