Konfessionalisierte Konflikte als Trugbilder
Können Sie kurz beschreiben, was es mit dem Begriff "Sektiererei" im Kontext der Politik im Nahen Osten auf sich hat?
Danny Postel: In den letzten Jahren haben sich sektiererische Konflikte und Gewalt im Nahen Osten drastisch erhöht und zugespitzt - etwa im Irak, in Syrien, Bahrain, Kuwait oder im Jemen. Dies gilt auch für die öffentliche Meinung in dieser Region. Die saudisch-iranische Rivalität ist ein zentraler Punkt dieser Entwicklung: Beide regionalen Mächte instrumentalisieren und vertiefen den sektiererischen Konflikt. Und sie befördern auch das, was wir als "sektiererische Vorstellungen" bezeichnen würden. So erleben nämlich anti-schiitische und anti-iranische Ressentiments derzeit einen Höhepunkt im Nahen Osten - selbst in Gesellschaften, in denen es gar keinen schiitischen Bevölkerungsanteil gibt, etwa in Malaysia. Der "Islamische Staat" (IS), der bis in den Kern anti-schiitisch ist, steht hier wohl als symptomatisch für diese Entwicklung und auch als treibende Kraft hinter der Zunahme sektiererischer Konflikte.
Im Jahr 2006 waren zwei der populärsten Figuren in der arabischen Welt Hassan Nasrallah und Mahmud Ahmadinedschad - zwei schiitische Muslime, einer von ihnen Nicht-Araber. Heute, mehrere Jahre nach dem Beginn des syrischen Bürgerkrieges, sind sowohl die Hezbollah als auch die Islamische Republik Iran äußerst unpopulär unter sunnitischen Arabern. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?
Nader Hashemi: Sektiererische Konfliktlinien haben sich heute zweifelsohne verhärtet und dominieren die Politik des Nahen Ostens. Diesen Prozess bezeichnen wir daher auch als "Sectarianization". Dieser Prozess hat sich nicht einfach von selbst vollzogen, sondern wurde von verschiedenen politischen Akteuren bewusst in Gang gesetzt, um bestimmte Ziele zu erreichen. Dies betrifft natürlich auch die Mobilisierung der Massen und deren Emotionen, wenn es um religiöse Identitäten geht. Hierbei wurde "der Hass regelrecht kultiviert", um einen Ausdruck des verstorbenen Historikers Peter Gay zu gebrauchen. Dieser konfessionell-sektiererische Prozess ist sehr vielschichtig. Man kann ihn sowohl auf höchster Regierungsebene als auch in den unteren Gesellschaftsschichten entdecken. Und man findet ihn ebenso auf außenpolitischer Ebene bestimmter regionaler Mächte wieder, die den Konflikt weiter schüren.
Bis heute versuchen viele Menschen, politische Konflikte im Nahen Osten oder in der islamischen Welt im Allgemeinen mittels eines "tief sitzenden Konflikts" zwischen Sunniten und Schiiten, der bereits in der frühen Phase des Islams begann, zu erklären. Warum ist das Ihrer Ansicht nach falsch und warum sind gegenwärtige konfessionell-sektiererische Konflikte nicht mit diesen alten historischen Blutfehden verbunden?
Postel: In den letzten Jahren haben sich in westlichen Medien- und Politikzirkeln gewisse Narrative durchgesetzt, die Umbrüche und Gewalt im Nahen Osten mit historisch bedingten Feindschaften begründen. Und dies wird dann als allgemein-gültige Erklärung für alle Probleme in der Region herangezogen. Diese Narrative findet man in allen politischen Spektren – von rechtspopulistisch und offen anti-muslimisch bis hin zu liberal oder links. In seinen verschiedenen Ausprägungen ist dieser pauschale "sektiererische Essentialismus" zu einer neuen Sichtweise avanciert, die bequem, intellektuell äußerst dürftig und tief im "Orientalismus" wurzelt ist.
Es ist um so vieles einfacher für Politiker, vermeintliche Experten und Diplomaten, alles pauschal mit einer "jahrhundertealten Fehde" zu begründen, denn es gilt: Wenn sunnitische und schiitische Muslime sich seit so langer Zeit bekriegen, dann ist es ja nur logisch, weshalb die Region bis heute von diesen Konflikten geplagt wird. Dabei wird die Verantwortung des Westens ausgeblendet. Die Rolle westlicher Politik in der Region tritt in den Hintergrund.
Die US-Invasion des Iraks, die Unterstützung verschiedener westlicher Regierungen für Saudi-Arabien, das ein Kriegsverbrechen nach dem anderen im Jemen verübt und die sektiererische Propaganda in der sunnitischen Welt fördert, die langjährige westliche Unterstützung für extrem repressive Diktaturen, die sektiererische Ängste schüren und diese für das eigene politische Überleben instrumentalisieren – all dies wird durch das Narrativ von der "alten historischen Fehde" kaschiert. Die Ursachen für die Probleme in der Region werden auf transhistorische, religiöse Gründe zurückgeführt. Das ist nicht nur absurd, sondern zeugt auch von schlechter Absicht.
Da stellt sich natürlich umso mehr die Frage, inwiefern dieser problematische Rekurs die gegenwärtigen Debatten beherrscht. Sie meinten ja bereits, dass sich das Phänomen nicht nur in rechten, sondern auch linken politischen Kreisen beobachten lässt…
Postel: Man kann Versionen dieses sektiererischen Narrativs wie gesagt im rechts- und linkspolitischen Spektrum finden, aber auch in der politischen Mitte. Thomas Friedman, ein bekannter Kolumnist der "New York Times", der als etablierter Nahost-Experte gilt, behauptet etwa, dass im Jemen das "Hauptproblem auf einen Konflikt aus dem 7. Jahrhundert zurückreicht, in dem es um die rechtmäßige Nachfolge des Propheten Mohammad geht", also "um Sunniten und Schiiten".
Und Barack Obama war der Meinung, dass die Wurzeln jener Plagen, die den Nahen Osten heimsuchen, ein Jahrtausend zurück liegen würden. Rechte Kommentatoren bedienen sich vulgärerer Begründungsmuster – wie etwa der ehemalige TV-Host Bill O'Reilly, der einmal sagte, dass "Sunniten und Schiiten sich gegenseitig töten wollen, sie wollen sich gegenseitig in die Luft jagen, sie wollen sich gegenseitig foltern". Und weiter: "Sie haben [dabei] Spaß...das ist das, was Allah ihnen befiehlt, und das ist das, was sie tun".
Wenn man die weit verbreiteten anti-muslimischen Vorurteile im rechtspolitischen Spektrum in Betracht zieht, ist eine solche Position wohl auch kaum verwunderlich. Umso überraschender ist es jedoch, wenn man sektiererische Narrative auch bei linken Intellektuellen entdecken kann. Ein Beispiel hierfür ist Patrick Cockburn, der einflussreiche Nahost-Reporter des britischen "Independent". Cockburn hat den Konflikt in Syrien permanent eine sektiererische Konnotation verliehen – unter anderem mittels eines Sprachgebrauchs, in dem Ausdrücke wie "sektiererisches Blutvergießen" oder "Dämonen" vorkamen.
Außerdem hat er oftmals jene Experten kritisiert, die in ihren Analysen die konfessionell- sektiererische Dimension eines bestimmten Konflikts in der Region eher in den Hintergrund rückten. Cockburn glaubte sogar in den gewaltfreien Demonstrationen von 2011 sektiererische Züge beobachten zu können. Der Syrienkonflikt wurde zwar später konfessionell überlagert, allerdings nicht von Anfang an. Außerdem war ein konfessionell-sektiererischer Konflikt, entgegen der Meinung Cockburns, in nicht unausweichlich. In einem Kapitel unseres neuen Buches „Sectarianization“ macht der Anthropologe Paulo Gabriel Hilu Pinto deutlich, wie das Assad-Regime die Konfessionalisierung des Konflikts bewusst als politische Strategie benutzte, etwa durch die Instrumentalisierung bestimmter religiöser Milizen sowie den selektiven Gebrauch von Gewalt, um bestimmte Gruppen von Demonstranten zu bestrafen und die Spaltung voranzutreiben. Außerdem wurden verschiedene Dschihadisten aus syrischen Gefängnissen befreit, um den Aufstand zu diskreditieren, einen neuen Feind zu kreieren, dem das Regime in den Kram passte.
In Anbetracht dieser Umstände kommt man zum Schluss, dass es sich bei vielen Beobachtungen, die die Politik im Nahen Osten betreffen, nicht wirklich um profunde Analysen handelt. Man könnte hierbei unterstellen, dass jene Personen, die sich dieser Deutungsmuster bedienen, gewisse politische Intentionen haben oder ideologisch vorbelastet sind. Wie lassen sich solche bewussten Fehlinterpretationen besser durchschauen?
Hashemi: Der beste Weg, eine ideologische Agenda, die als objektive Nahost-Analyse daher kommt, zu demaskieren, ist, den Blick auf die Doppelmoral zu richten. Denn viele Kommentatoren und Aktivisten empören sich über Autoritarismus und Menschenrechtsverstöße in einigen Staaten, in anderen jedoch nicht. Die Frage des radikalen Islams ist ein weiteres Beispiel. Der Aufstieg des Islamismus in verschiedenen Formen als eine Antwort auf politische Repressalien ist mittlerweile in den Sozialwissenschaften ausführlich dokumentiert und wird im linkspolitischen Spektrum auch als solche verstanden.
Beispielsweise ist es unstrittig zu behaupten, dass der Aufstieg des politischen Islam im Iran während und nach der Revolution von 1979 in direkter Verbindung zur autoritären Politik der Pahlavi-Monarchie stand. Ähnlich verhielt es sich auch im Fall Ägyptens und der Muslimbrüder oder in Algerien bezüglich des Aufstiegs der FIS. Wir verstehen die Verbindungen zwischen repressiven Staatsstrukturen und oppositionellen Bewegungen, die als direkte Antwort auf eine repressive Politik in Erscheinung treten. Im Fall von Israel und Palästina haben die meisten Linken kein Problem damit, den Aufstieg der Hamas im Kontext der israelischen Besatzung sowie der Erniedrigung und Unterdrückung der Palästinenser zu betrachten.
Doch sobald es um Syrien geht, wollen viele Linke dieses Verhältnis nicht mehr verstehen. Der Aufstieg verschiedener Rebellengruppen, die sich nach 2011 islamistisch orientieren, wird nicht mit der Politik des Assad-Regimes in Verbindung gebracht. Stattdessen zieht man es vor, ausschließlich die USA und ihre Verbündeten dafür verantwortlich zu machen. Viele linke Autoren und Aktivisten adaptieren diese Ansichten, während sie gleichzeitig die massive repressive Gewalt des Assad-Regimes und seiner russischen und iranischen Helfershelfer herunterspielen oder gar ignorieren. Dabei war es genau jene Gewalt, die Grundlagen für den Aufstieg des radikalen Islam geebnet hat. Diese Doppelmoral ist ohne Zweifel ideologisch begründet.
Das Gespräch führte Emran Feroz.
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Nader Hashemi ist Direktor des "Center for Middle East Studies" und Professor für Nahost- und Islamstudien an der "Josef Korbel School of International Studies" der Universität Denver. Er ist Autor der Bücher "Islam, Secularism and Liberal Democracy" und Mitherausgeber von "The Syria Dilemma" sowie "The People Reloaded: The Green Movement and the Struggle for Iran's Future".
Danny Postel ist Assistant Director des "Middle East and North African Studies Program" an der Northwestern University sowie ehemaliger Associate Director des "Center for Middle East Studies" an der Josef Korbel School of International Studies der Universität Denver. Er ist Mitherausgeber von "The Syria Dilemma" sowie "The People Reloaded: The Green Movement and the Struggle for Iran's Future".