Vom samtenen Frühling zur militärischen Willkür
Ist es Ihrer Ansicht nach möglich, eine säkulare Grundordnung in der muslimischen Welt ohne religiöse Reformen zu etablieren?
Hassan Hanafi: Nein, in der arabischen Welt ist das praktisch nicht möglich. Denn der Begriff "Säkularismus" stößt auf allgemeine Ablehnung bei der Bevölkerungsmehrheit innerhalb der arabischen Welt. Das liegt historisch betrachtet darin begründet, dass das säkulare Denken seine Legitimationsgrundlage bereits nach der Niederschlagung der sogenannten Urabi-Revolte von 1881/82 verloren hatte. Damals vertrat Ahmad Urabi Pascha als Früher der nationalen Volksbewegung modernistische, ja durchaus weltliche Ideen seines Lehrers Gamal al-Din al-Afghani.
Nach dem Siegeszug des militanten Kemalismus in der Türkei und der Abschaffung des Kalifats 1923 hatten es einflussreiche, reformorientierte Vordenker wie Raschid Ridda sehr schwer, für ihre weltlichen, europäisch-geprägten Ideen einzutreten. Endgültig wurde der Säkularismus-Begriff diskreditiert als nationalistisch-säkulare Regime islamische Aktivisten und Vordenker brutal verfolgten.
Wie ließen sich die Folgen dieser historischen Fehlentwicklung abmildern, vor allem in Hinblick auf eine mögliche Versöhnung oder Annäherung der säkularen und religiösen Kräfte?
Hanafi: Ein möglicher Lösungsansatz wäre es, zu den ursprünglichen Idealen der islamischen Reformbewegungen von Mohammad Abdu und Jamal al-Din al-Afghani zurückzukehren.
Was meinen Sie damit konkret?
Hanafi: Wir sollten uns auf das reformistische Erbe dieser Bewegung besinnen, indem wir die damalige Ablehnung weltlichen Gedankenguts als reflexartige Reaktion einflussreicher Vordenker auf das Scheitern der Befreiungsbemühungen der islamischen Völker gegenüber dem europäischen Kolonialismus begreifen. Diese Reaktionen wurden natürlich durch Atatürks radikalen Laizismus verstärkt. Daher ist es wichtig, dass wir uns auf die wirklich wesentlichen Grundfragen und zentralen Herausforderungen, vor denen die Umma, die islamische Gemeinschaft, bis heute steht, konzentrieren. Dazu gehören insbesondere Fragen, wie für die Bürger Grundfreiheiten garantiert werden können und ein Mindestmaß an sozialer Gerechtigkeit realisiert werden kann.
Angesichts der Zunahme extremistischer und sektiererischer Gewaltexzesse in einigen islamischen Staaten werden Stimmen laut, die dazu aufrufen, den Einfluss der Religion in der Öffentlichkeit mit aller Macht einzudämmen. Dieses Vorhaben stößt jedoch auf Widerstand des traditionellen islamischen Establishments und natürlich diverser islamistischer Gruppierungen.
Hanafi: Die aggressive Verbannung der Religion aus der Öffentlichkeit durch den Staat und die Einführung einer Art "Staatsislam" führt uns nicht aus diesem Dilemma. Das Spannungsverhältnis von Religion und Politik bleibt dennoch bestehen. Wir benötigen daher auch eine grundlegende Reform des islamischen Establishments.
Im Islam gibt es keine religiös übergeordnete Autorität wie in der Kirche. Ist diese Tatsache auch ausschlaggebend dafür, dass es im Islam bislang keine tiefgreifenden Reformen gegeben hat, ähnlich wie die Lutherischen Reformen im Christentum oder die Spinozas im Judentum?
Hanafi: In der Tat kennt der Islam keine kirchenähnlichen Strukturen. Weder die sunnitische Al-Azhar-Universität noch der Weltverband muslimischer Gelehrter können als gesamtislamische Autorität gelten. In meinen Augen leitet sich die einzige islamische Autorität allein aus den ergebnisoffenen, wissenschaftlichen Diskursen ab. Und aus diesem Grund ist eine Reformation, wie sie die Kirchen erfahren haben, im Islam strukturell schlicht unmöglich.
Im Westen und in der arabischen Welt werden Stimmen laut, die behaupten, der Arabische Frühling sei gescheitert. Teilen Sie diese Ansicht?
Hanafi: Wie man im Westen den Ausgang der arabischen Revolutionen beurteilt, finde ich nicht sonderlich interessant. Als wesentlich wichtiger erachte ich, dass die Araber selber ihr Schicksal in die Hand nehmen, wie sie den Ausgang dieser revolutionären Dynamik sehen und welche Schlüsse sie daraus ziehen. Denn westliche Eliten verknüpfen ihre Sichtweisen und Einschätzungen bekanntermaßen mit ihren eigenen Interessen.
Es ist verfrüht, die Revolutionen des Arabischen Frühlings für gescheitert zu erklären. Im Augenblick schwanken die Umwälzungen zwischen militärischer und religiöser Willkürherrschaft. Die ursprünglichen Ideale der Revolutionsbewegung, allen voran "Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit für alle", drohen zwischen beiden genannten Despotien verloren zu gehen.
Vor allem in Ägypten ist die soziale Not groß: Die Lebensmittelpreise steigen immens, die Lohnzahlungen bleiben vielfach aus und die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander. Die nächste Revolution in Ägypten wird kommen – und sie wird eine "Brot-Revolte" sein.
Das Interview führte Moncef Slimi.
© Qantara.de 2014
Übersetzung aus dem Arabischen von Annalena Junggeburth
Der Philosophieprofessor Hassan Hanafi zählt zu den bekanntesten arabischen Intellektuellen der Gegenwart und gilt als Kritiker des herrschenden religiösen Diskurses. Er wurde 1935 in Kairo geboren. Nach seinem Bachelor in Philosophie 1956 studierte er zehn Jahre an der Sorbonne in Paris und arbeitete bis zu seiner Emeritierung als Professor für Philosophie an der Universität von Kairo.