„Die politischen Akteure versinken in diesem Konflikt“
Qantara: Beginnen wir mit der letzten Verhandlungsrunde im schweizerischen Genf vergangenen Monat. Wie bewerten Sie das Ergebnis?
Osman Mirghani: Die Verhandlungsrunde sollte der Anfang vom Ende dieses dunklen Kapitels des Kriegs sein. Drei Punkte standen auf der Tagesordnung: Erstens die Eröffnung sicherer Korridore für den Transport von Hilfsgütern, zweitens die Einigung auf einen Waffenstillstand als Vorstufe zu Friedensgesprächen, und drittens die Einleitung eines politischen Prozesses für die Rückübertragung der Macht an eine zivile Regierung.
Aber offenbar kam alles anders als geplant. Die Delegation der sudanesischen Armee reiste gar nicht erst nach Genf, wodurch kein Waffenstillstandsabkommen zustande kam. Zwar wurde über zehn Tage aus der Ferne verhandelt, doch einigten sich die Kriegsparteien lediglich im ersten Punkt: auf zwei humanitäre Korridore, einen über den Grenzübergang Adre als Zugang zu Regionen in der Provinz Darfur, sowie einen zweiten von Bur Sudan über die Stadt Al-Dabbah als Zugang zum Norden des Landes. Zu den übrigen Tagesordnungspunkten gab es keine Entscheidung.
Laut UN-Vertretern herrscht im Sudan nach über 500 Kriegstagen die weltweit größte Hungerkrise. In Darfur gebe es Anzeichen einer Hungersnot. Hat sich die Lage nach den Genfer Verhandlungen entspannt?
Es gibt eine spürbare Entspannung der Situation. Hunderte von Lebensmittellieferungen sind über Adre und Port Sudan ins Land gebracht worden. Mehr als 3.000 Tonnen Hilfsgüter haben nahezu 300.000 sudanesische Bürger erreicht. Dennoch sind 25 Millionen Menschen von großem Hunger und einer Hungersnot bedroht, insbesondere um die Stadt Al-Faschir in Darfur und der Provinz Sennar. Der Bedarf an humanitärer Hilfe ist nach wie vor sehr hoch, aber der Anfang ist ermutigend.
Schon im Mai 2023 hatten die USA und Saudi-Arabien im saudischen Jeddah versucht, den Krieg auf dem Verhandlungsweg zu lösen. Warum gab es keinen Erfolg?
Allen Bemühungen zum Trotz reichte der Wille zum Frieden bei den sudanesischen Konfliktparteien nicht aus, um die internationale Dynamik zu nutzen und eine Lösung zu erarbeiten. Die Gespräche führten lediglich zu vereinzelten humanitären Kampfpausen für wenige Tage, die keinen ersichtlichen Einfluss auf das Geschehen vor Ort und die humanitäre Situation hatten.
Auch bei den Gesprächen in Genf drängten die USA darauf, den Krieg zu beenden. Welches Interesse hat Washington?
Es besteht die Gefahr, dass der Sudan vollständig ins Chaos abgleitet. Wir sprechen von einer der sensibelsten Weltregionen. Der Sudan liegt am Roten Meer, einer wichtigen Transitroute für den Welthandel. Die USA wollen verhindern, dass eine Situation wie im Jemen entsteht, die die internationale Schifffahrt gefährdet. Daher gibt es seit Jahresbeginn als Fortsetzung der Gespräche von Jeddah einen neuen Vermittlungsprozess.
Ausgangspunkt ist die Roadmap mit drei Ebenen: der humanitären, der militärischen und der politischen. Die beiden ersten Ebenen wurden in Genf verhandelt. Der politische Bereich wurde mehreren Staaten aus der Region übertragen. Dazu fanden Anfang Juli auf einer Konferenz in Kairo erste Gespräche statt, bei denen sich die politischen Gruppierungen zusammensetzten und versuchten, sich auf einen politischen Prozess zu einigen, der eine Rückkehr zu einer zivilen Regierung ermöglicht. Danach gab es noch eine zweite und dritte Konferenz in Addis Abeba. Dieser Prozess geht weiter und es wird versucht, eine politische Lösung für die Zeit nach dem Krieg zu finden.
Was ist der nächste Verhandlungsschritt, was passiert im Hintergrund?
Aktuell konzentriert man sich offenbar auf die humanitäre Hilfe und wartet ab, ob sich die Positionen der Verhandlungsparteien ändern. Derweil ist aus den Vermittlungsbemühungen unter US-Führung mit Beteiligung der Gastgeber Saudi-Arabien und der Schweiz sowie den Beobachtern Ägypten, Vereinigte Arabische Emirate, Afrikanische Union und UNO ein ständiges, zeit- und ortsunabhängiges Format entstanden. Da es kein festgelegtes Ende dafür gibt, können die sudanesischen Machthaber jederzeit an den Verhandlungstisch zurückkehren.
Der Krieg brach vor anderthalb Jahren aus. Haben Sie erwartet, dass er bis heute andauern würde?
Mit so einem langen Zeitraum hatte ich nicht gerechnet. Die Ursachen für den Krieg und seine Fortführung überzeugen das sudanesische Volk bis heute nicht. Nicht einmal den Ausbruch der Kämpfe konnten sie rechtfertigen. Der Krieg begann im April 2023 infolge von Konflikten zwischen den politischen Akteuren im Sudan. Dabei ging es um ein Rahmenabkommen zur Machtübergabe an eine zivile Regierung, mit US-Unterstützung. Man hätte diese Konflikte ohne Auswirkungen auf Frieden und Sicherheit im Land einhegen können.
Aber leider haben sich die politischen Akteure militärischer Gewalt bedient und zu den Waffen gegriffen. Jede Seite versuchte, ihre Agenda durchzusetzen. Dadurch spitzte sich die Konfrontation zwischen dem Oberbefehlshaber der sudanesischen Armee Abdel Fattah Burhan und seinem Stellvertreter Mohammed Hamdan Daglo, dem Kommandeur der Rapid Support Forces (RSF), zu. Am 15. April 2023 brach der Krieg aus.
Die Kämpfe verschärften sich, wodurch die Gräben vertieft wurden und regionale und internationale Mächte mit hineingezogen wurden. Zunächst, etwa drei Monate lang, war der Krieg auf ein Gebiet von zwanzig Quadratkilometern innerhalb der Hauptstadt Khartum beschränkt. Später verliehen einige politische Kräfte dem Krieg zusätzliche Legitimität, etwa im vergangenen Januar, als die „Sudanesische Koalition ziviler demokratischer Kräfte” (Taqaddum) eine Übereinkunft mit den RSF traf.
Dabei behaupten die zivilen politischen Bewegungen wie Taqaddum, dass sie auf ein Ende des Krieges hinarbeiten?
Sämtliche politischen Akteure sind darauf aus, sich die Lage zunutze zu machen, um ihre Agenda für die Nachkriegszeit zu befördern. Das ist mit ein Grund, warum der Krieg so lange andauert. Es schwächt die Rolle der politischen Kräfte bei der Beendigung des Krieges enorm. Taqaddum ist einer dieser Akteure, eine Bewegung, die nicht über ausreichend Erfahrung verfügt und die in ihrer Herangehensweise große Schwächen aufweist. Sie hat schwere Fehler gemacht, etwa bei der Unterzeichnung des Abkommens von Addis Abeba mit dem RSF-Kommandeur Mohammed Hamdan Daglo. Damit haben die Sudanesen die Taqaddum als parteiisch abgestempelt.
Die politischen Akteure versinken in diesem Konflikt und verlieren die nationalen Interessen aus dem Blick. Wenn sie einsehen würden, welchen Einfluss sie bei der Beendigung des Kriegs und der Gestaltung der Zukunft des Sudans haben könnten, könnten sie eine wichtige Rolle spielen.
Beide Seiten behaupten, dass sie den Krieg für das sudanesische Volk und die Verteidigung der Demokratie führen. Geht es beim Kampf zwischen Daglo und Burhan wirklich darum?
Meines Erachtens geht es ausschließlich um Macht. Das hat nichts mit den Interessen des Volkes zu tun. Die RSF reden von Demokratie und dem Ende der Marginalisierung in einigen Regionen Sudans. In der Praxis der anderthalb Kriegsjahre hat sich aber gezeigt, was die RSF angerichtet haben: Blutvergießen, Zerstörung der Infrastruktur und Übergriffe gegen das sudanesische Volk. Das ist sehr weit entfernt von den Rufen nach Demokratie oder guter Regierungsführung.
Es gab Waffenlieferungen aus dem Ausland, zum Beispiel Drohnen aus dem Iran für die Armee, vor kurzem auch russische Flugzeuge. Gleichzeitig wurde berichtet, dass die RSF Waffen aus den Emiraten erhalten haben. Sehen wir im Sudan einen Stellvertreterkrieg?
Natürlich wurden internationale und regionale Akteure in den Konflikt hineingezogen, da beide Seiten nach Unterstützung suchten. Aber diese regionalen und internationalen Kontakte und Verknüpfungen sind begrenzt. Sie stellen zum aktuellen Zeitpunkt keine Gefahr für die Einheit und den Zusammenhalt Sudans dar. Wir sind weit vom syrischen Szenario entfernt, wo am Ende das ganze Land zum Schlachtfeld Dritter wurde.
Aber wenn es so weiter geht wie bisher, werden andere Akteure die chaotischen Verhältnisse nutzen und sich das gewaltige Territorium Sudans und der acht angrenzenden Staaten sowie die 800 Kilometer langen Küste am Roten Meer zunutze machen, um Chaos in der Region zu stiften. Hier denke ich insbesondere an Terrororganisationen, die in afrikanischen Staaten östlich und westlich Sudans aktiv sind. Diese könnten in der ausgedehnten sudanesischen Geografie einen sicheren Zufluchtsort finden.
Wie könnte der Krieg enden?
Es ist derzeit nicht vorstellbar, dass eine Seite siegt und die andere vollständig geschlagen wird. Am Ende wird die Armee siegen, aber zu einem hohen Preis. Das könnte zu einer Teilung und Zersplitterung Sudans führen. Geht der Krieg weiter wie bisher, gerät die Situation außer Kontrolle. Daher ist eine Einigung auf dem Verhandlungsweg die beste Lösung.
Aus dem Arabischen übersetzt von Daniel Falk.
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