Feinde in Windeln
Es war eine Zeremonie der leisen Töne, als in Berlin die Namen von mehr als zehntausend in Gaza getöteten Kindern verlesen wurden. Das Gedenken fand neben der Neuen Wache statt, einem historischen Erinnerungsort für die Opfer von Krieg und Gewalt; dort steht die berühmte Pietà von Käthe Kollwitz, die Skulptur der trauernden Mutter. Die Lesung dauerte 20 Stunden, bis nach Mitternacht.
Es ist nicht leicht, die Namen toter Kinder vorzutragen, mitsamt ihrem Alter; ich habe es mir nicht zugemutet. Nachdem ich später ein Foto der Zeremonie ins Netz gestellt hatte, gab es solche Reaktionen: Erstens sei dies der klassisch antisemitische Kindermord-Topos, zweitens seien die Toten keine Kinder, sondern heranwachsende Terroristen.
Dass Kinder ein Kriegsgebiet nicht verlassen dürfen, stellt an sich eine Besonderheit dar. Die Flüchtlingslager der Welt sind voller Mütter mit Kindern, die bewaffneten Konflikten zu entkommen suchten; in Deutschland fanden zum Glück viele Ukrainerinnen mit ihren Kindern Zuflucht.
Anders als die Ukraine ist das Gebiet von Gaza gänzlich von Kriegshandlungen durchdrungen. Auf einer Fläche, die etwas kleiner ist als das Stadtgebiet von Köln, irren seit acht Monaten eine Million Kinder und Jugendliche umher, davon 335 000 unter fünf Jahren. Dies sind Zahlen von Unicef.
Deutschland schwelgt in Ersatzhandlungen
Kinder sind ein Spiegel, in diesem wie in anderen Kriegen; ihr Leid spiegelt das Versagen der Verantwortlichen. Dies zu sagen ist nicht trivial. Im Sudan droht gemessen an der Zahl Geflüchteter gegenwärtig die größere humanitäre Katastrophe. Aber in den Gaza-Krieg sind Deutsche involviert, haben Waffen und ideelle Unterstützung geliefert.
Mächtig ist der Impuls, vor den Folgen die Augen zu verschließen. Lieber die Kinder nicht sehen, die der Westen retten könnte, wenn USA und EU jetzt gemeinsam und in aller Deutlichkeit sagen würden: Netanjahu, es reicht! (Immerhin liegt ein möglicher Deal mit der Hamas auf dem Tisch.)
Stattdessen schwelgt Deutschland in Ersatzhandlungen - erinnert sich noch jemand an den Chirurgen Ghassan Abu Sitta, Augenzeuge der Verzweiflung in Gaza? Die Bundesregierung versperrte ihm nicht nur den Zutritt nach Deutschland, sondern bewirkte für den Arzt ein EU-weites Einreiseverbot. Vor Gericht hatte das keinen Bestand; wie auch?
Wer die Zahl von mutmaßlich 14.000, gar 15.000 minderjährigen Kriegsopfern in Gaza bezweifelt, mag das meinetwegen tun. Aber angesichts von 335 000 Kindern unter fünf Jahren scheint mir eine solche Todesrate nach acht Monaten zwischen Geröll und Müll, mit chronischem Durchfall und mangelernährt keineswegs außer Proportion.
Als im März das SOS-Kinderdorf Rafah nach Bethlehem evakuiert wurde und die 68 Kinder erstmals wieder vor gedeckten Frühstückstischen saßen, rührten sie nichts an. Sie konnten nicht glauben, dass all das Essen nur für sie sei.
Ferne Erinnerung an die Schule
Seit Kriegsbeginn waren die Kinder im Gazastreifen nicht mehr in der Schule. Israel zerstöre das palästinensische Bildungswesen systematisch, mahnen UN-Vertreter.
Vertreibung aus der Kindheit
Gewiss: Auch jüdisch-israelische Kinder leiden unter dem Krieg, zumal da, wo Hamas und Hisbollah angreifen und oft die Sirenen heulen. Die Seelen vieler weiterer wurden beschädigt durch die Angst, die sie seit dem 7. Oktober bei ihren Eltern spüren.
Elterliche Furcht und Unsicherheit zu erleben, ist für jedes Kind ein tiefgreifendes Erlebnis. In der Westbank werfen palästinensische Kinder Steine auf Militärfahrzeuge im fatalen Glauben, sie könnten so ihr Zuhause, ihr Dorf beschützen. Ein Delikt, auf das bis zu zehn Jahren Gefängnis steht.
Wie es sich anfühlt, unter Besatzung aufzuwachsen, nichts anderes zu kennen, lässt sich kaum erahnen. Aus Sicht israelischer Ethnonationalisten sind die palästinensischen Kinder schlicht zu zahlreich – demografisch stellen Palästinenser in absehbarer Zeit die Mehrheit zwischen Fluss und Meer, also dort, wo es, wie Netanjahus Energieminister Eli Cohen gerade versicherte, nur einen Staat geben wird, den israelischen.
Rassismus gegenüber Kindern wird gern geleugnet, aber natürlich gibt es ihn, und der Rassismus gegenüber palästinensischen Kindern ist von einer spezifischen Art: Ihnen fehlt die Unschuld, sie sind gefährlich - als würden sie von früh auf, schon in den Windeln, ein Terror-Gen in sich tragen.
Die palästinensische Kriminologin Nadera Shalhoub-Kevorkian nennt dies die Politik des "Unchilding", eine Art Vertreibung aus der Kindheit, ablesbar an der hohen Zahl Minderjähriger in Haft.
Besatzungspolitik spaltet die Familien
Im besetzten Ostjerusalem können Eltern ihre Kinder oft nur aus dem Gefängnis herausbekommen, indem sie in Hausarrest einwilligen. Und dann geschieht zum Beispiel dies: Der 13jährige Iyad will das Fenster zum Hof öffnen, um mit seinen Kameraden zu sprechen, aber es ist verriegelt, sein Vater hat ein Schloss angebracht, aus Angst, die Familie würde womöglich gegen die Auflagen des Gerichts verstoßen. Der Junge ist wütend und verletzt und wendet sich in seinem Schmerz gegen die Eltern, die nun Gefängniswärtern gleichen.
Familien zu spalten, sei Bestandteil von Besatzungspolitik, schreibt Shalhoub-Kevorkian. Als ich kürzlich in Jerusalem war, wollte ich sie aufsuchen, aber die Professorin der Hebrew University wurde gerade selbst kurzzeitig inhaftiert. Ihr Buch über “Unchilding” ist bei Cambridge University Press erschienen.
Der rassistische, verzerrende Blick auf palästinensische Kinder trägt dazu bei, ihr tausendfaches Sterben in Gaza hinzunehmen. Und dann gibt es noch die typisch deutsche Kultivierung von Ratlosigkeit: Dies sei ja alles so kompliziert, was solle man da nur sagen…. Aber was ist so schwierig daran, gegen das Sterben von Kindern aufzubegehren? Was ist so schwierig daran zu sagen: Das muss aufhören, sofort?
Das ganze Ausmaß des Unglücks in Gaza werden wir ohnehin erst sehen, wenn der Krieg beendet ist. Dann wird uns eine kindliche Heerschar von Traumatisierten, Verstümmelten und Amputierten erwarten. Und wir werden keine Antwort haben.
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