"Kunst füllt im Iran eine Leerstelle"
Sie haben ab 2007 in Manchester studiert. Als 2009 die "Grüne Bewegung" im Iran entstand und zehntausende Menschen gegen den mutmaßlichen Stimmbetrug bei der Wiederwahl von Präsident Ahmadinedschad protestierten, sind Sie sofort in ihre Heimat zurückgekehrt. Warum?
Amir Reza Kohestani: Ich konnte nicht tatenlos herumsitzen und hatte das Gefühl, einen historischen Moment zu verpassen. Als ich im Juli 2009 zurückkehrte, hatten Regierung und Behörden die "Grüne Bewegung" aber bereits niedergeschlagen. Im ganzen Land herrschte eine riesige Depression. Alle waren hoffnungslos – besonders die Künstler und Intellektuellen. Ich habe in meinem Theaterstück "Wo warst du am 8. Januar?" Bezug auf die Ereignisse genommen und danach schnell Probleme mit den Behörden bekommen. Aber nur indirekt: Plötzlich versiegten die öffentlichen Gelder für meine Theaterkompagnie "Mehr".
2011 haben sie Tschechows-Drama "Iwanow" in Teheran aufgeführt. Das Stück wurde von iranischen Kritikern zum "besten Theaterstück des Jahres" gewählt. Warum haben Sie einen europäischen Klassiker inszeniert?
Kohestani: Die Zensoren sind auf mich aufmerksam geworden. Es war klar, dass ich kein eigenes Stück mehr würde aufführen können. Also entschied ich mich für Tschechows „Iwanow“, um mich dahinter quasi verstecken zu können. Das Stück kommt ja zunächst als einfache, harmlose Liebesgeschichte daher.
Tschechows Tragödie von 1887 erzählt vom depressiven russischen Gutsbesitzer Iwanow der sich in die viel jüngere Sascha verliebt. Vordergründig ein Stück über eine Midlife-Crisis, persifliert das Bühnenwerk Apathie und Stillstand der russischen Gesellschaft im Zarenreich Ende des 19. Jahrhunderts. Sie haben es auf die aktuellen iranischen Verhältnisse umgemünzt – um damit die Lethargie und Perspektivlosigkeit nach dem Scheitern der "Grünen Bewegung" zu beschreiben?
Kohestani: Genau. Dadurch, dass ich Tschechows Handlung und seine Charaktere in den Iran verlegt habe, entstand eine Brücke zwischen der damaligen politischen Situation in Russland und der heutigen Lage im Iran.
Text und Handlung orientieren sich eng am Original. Die Schauspieler sprechen aber Farsi und tragen iranische Kleidung. Viele der Dialoge von Tschechows Figuren wirken wie eine Kritik an der iranischen Politik und Gesellschaft. Wie reagierte die iranische Zensur?
Kohestani: Sie kamen fünf Mal, um das Stück anzuschauen! Jedes Mal haben sie relativ beliebig eine Szene herausgepickt und kritisiert. Ihnen hat wohl der Tenor des Stücks missfallen. Es gab unendliche Diskussionen. Letztendlich konnten wir die meisten Änderungswünsche umgehen. Wir haben auf eigene Verantwortung Änderungen revidiert und uns darauf berufen, dass wir ja nur Tschechows Original inszenieren! Die Zensoren sind aber nicht nur immer die Bösen. Denn viele von ihnen sind ehemalige Theatermacher, die sich für die Theaterszene einsetzen und versuchen, ihr freie Wege zu eröffnen.
In Tschechows Tragödie begeht Iwanov zum Schluss Selbstmord. Sie haben das Ende umgeschrieben. Warum?
Kohestani: Bei Tschechow ist Iwanows Freitod ein letzter Akt der Selbstbehauptung. Ich konnte mir den "heutigen Iwanow" aber nicht als stolz und tapfer vorstellen. Zudem hat mir Saschas Rolle nicht gefallen – bei Tschechow verharrt sie zu sehr in Passivität. Ich habe in dieser Figur die "iranische Sascha" nicht wiedererkannt. Ich musste an die "Grüne Bewegung" denken, damals bildeten ja die iranischen Frauen die Speerspitze des Protests. Sie waren diejenigen, die am radikalsten waren. Deswegen ist Sascha in meiner Inszenierung mutig und selbstbewusst: Sie verlässt Iwanow. In der iranischen Öffentlichkeit wurde dieses Ende kontrovers diskutiert: Darf eine Frau einfach so einen Mann verlassen?
Das Stück wurde ein großer Erfolg...
Kohestani: ...die Premiere wurde wegen der Zensur zwei Wochen lang hinausgezögert. Sie drohten, ein anderes Stück auf den Spielplan zu setzen. Wir konnten nur noch rund 20 Aufführungen zeigen. Das Publikum hat aber begriffen, dass wir Probleme mit dem System hatten und unterstützte uns daher. In der letzten Aufführungswoche waren alle Plätze restlos ausverkauft, die Kritiken waren sehr gut. Das Stück wurde sogar auf DVD veröffentlicht, ich bekomme heute noch jede Woche Reaktionen auf das Stück.
Eine junge Iranerin hat nach der Premiere auf Facebook gepostet: "Wir sind alle Iwanow!". Theater scheint im Iran auch die Jugend zu begeistern.
Kohestani: Die jungen Leute haben sonst keinen Platz, wo sie hingehen können. Disco oder Kino gibt es nicht, also gehen sie ins Theater! Wir haben hier ein riesiges Publikum, das sich für Kunst interessiert – auch für Kino, Darstellende Kunst etc. Für uns Kulturschaffende ist das großartig! Kunst füllt im Iran eine Leerstelle, sie ersetzt die fehlenden Medien und kann die Gesellschaft beeinflussen. In Teheran gibt es mittlerweile rund 20 Theaterkompanien, die sicher sein können, ihr Publikum zu finden.
Beschränkt sich die Theaterszene vor allem auf die Hauptstadt?
Kohestani: Ja, aber das ändert sich. Wir haben als erste Theaterkompagnie ein Netzwerk aufgebaut, das uns ermöglicht, andernorts aufzutreten. Es begann mit "Iwanow", den wir auch in meiner Heimatstadt Schiras gezeigt haben. Anfangs war unklar, ob das funktioniert: Es war die erste professionelle Theaterproduktion, die in Schiras seit 30 Jahren aufgeführt wurde! Ansonsten gibt es dort nur Amateur-Theatergruppen, die allerdings oft sehr gut sind. Wir haben Iwanow dort ohne jede staatliche Unterstützung aufgeführt und waren jeden Abend ausverkauft. Nun beginnen andere Theatergruppen ebenfalls in Schiras aufzutreten. Ein positiver Nebeneffekt der Kürzungen im Kulturbereich: Wegen der fehlenden staatlichen Subventionen sind wir gezwungen, uns selber nach eigenen Auftrittsmöglichkeiten umzuschauen. Nun scheint es so, dass sich Schiras als "zweite Theaterhauptstadt" Irans etabliert!
Seit einem Jahr ist Hassan Rohani der neue Präsident Irans. Welchen Eindruck haben Sie von ihm?
Kohestani: Eine sehr positive! Ich denke, er will wirklich Veränderungen auf den Weg bringen. Ich habe keine hohen Erwartungen, weil ich mein Land kenne: Veränderungen dauern im Iran sehr lange. Durch die Wirtschaftsanktionen ist die ökonomische Lage sehr schlecht, weswegen für Kultur kaum Geld zur Verfügung steht. Trotzdem sind im Iran neue Freiheiten spürbar: Bei meinem letzten Theaterstück "Timeloss" hatte ich beispielsweise keinerlei Probleme mit der Zensur! Seit der "Grünen Bewegung" wurden nur noch zwei, drei Theaterregisseure vor Gericht gestellt, meist im Zusammenhang mit der Darstellung von Sexualität. Häufig ging es dabei nicht um die Theaterstücke selbst, sondern um interne Streitigkeiten im Machtapparat. Auch an den Universitäten weht ein neuer Wind: Ich unterrichte an der Teheraner Hochschule. Dort sind die Studenten nun politisch viel aktiver, engagieren sich und haben mehr Freiräume: Einige Theaterstudenten haben z.B. die Erlaubnis bekommen, in Gefängnisse zu gehen, um dort Projekte mit Gefangenen zu machen.
Das Interview führte David Siebert.
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