Den Schmerz bewältigen
Herr Matar, Sie haben nach zwei Romanen, die in Libyen spielen, mit "Die Rückkehr" erstmals ein autobiografisches Werk verfasst. Wie kam es zu diesem Wechsel vom Roman zur Autobiografie?
Hisham Matar: Das war keine bewusste Entscheidung. Für mich entsteht die Idee zu einem Buch mit seiner Form. Die Romane haben diese Freiheit der Fantasie. Aber mit "Die Rückkehr" habe ich angefangen, ohne genau zu wissen, was ich mache.
Ich beginne immer mit einem Bild, einem Gefühl oder auch einem einzigen Satz, den ich nicht mehr aus meinem Kopf bekomme. Bei "Die Rückkehr" war das der Moment, als ich mit meiner Frau und meiner Mutter in Kairo am Flughafen saß und auf den Flug nach Libyen wartete. Einerseits wollte ich nach Libyen fliegen, um meinen Vater zu suchen und dann auch wieder nicht. Diesen Moment wollte ich beschreiben.
Sie erzählen, wie Sie versuchen mit der Belastung durch den Verlust und die Unsicherheit umzugehen. War Ihnen das nicht zu persönlich?
Matar: Als ich festgestellt habe, dass es sich um eine Autobiografie handelt, war ich beunruhigt, denn ich bin eine private Person. Außerdem verlangte mir das Schreiben sehr viel Geduld ab in Fragen, die mich sehr ungeduldig werden lassen. Ich war zunächst nicht sicher, ob ich das kann und ob ich es überhaupt will, aber dann konnte ich nicht mehr aufhören.
Hat Sie der Gegensatz von Wissen wollen und doch lieber im Dunkeln bleiben beim Schreiben angetrieben?
Matar: Noch mehr hat mich meine Neugier angetrieben. Ich wollte die Chance nutzen, aufmerksam die sehr komplexen Ereignisse rund um das Verschwinden meines Vaters nachzuvollziehen und die ganze Palette von Emotionen zu beschreiben. Es geht dabei einerseits um sehr private innere Regungen und gleichzeitig um Ereignisse, die mit dem ganzen Land zu tun haben. Sich mit dieser ganzen Bandbreite auseinanderzusetzen, war eine interessante Erfahrung.
Am Ende des Buches haben Sie immer noch keine Gewissheit über das Schicksal Ihres Vaters. Konnten Sie trotzdem so etwas wie einen Abschluss finden?
Matar: Es ist nach wie vor offen, was mit meinem Vater passiert ist. Das Buch ist sicher kein Schlussstrich. Ich halte nicht viel davon, etwas abzuschließen. Mich interessiert vielmehr, wenn sich Dinge öffnen. Ich habe versucht, den Ereignissen offen zu begegnen und sie zu verstehen, damit sie mich nicht mehr überwältigen können.
Ich musste an den italienischen Holocaust-Überlebenden Primo Levi denken, denn auch bei ihm gibt es diesen Versuch zu verstehen, was drohte ihn zu vernichten. Ich habe die Ereignisse um meinen Vater so empfunden, als sollten sie meine Fähigkeit zur Neugier zerstören. Ich habe versucht, sie auf eine Art und Weise zu reflektieren, die genau das Gegenteil der repressiven Akte darstellen soll, denen er zum Opfer gefallen ist.
Sie waren 19 Jahre alt, als Ihr Vater aus Kairo entführt wurde. Wie kann man sich von einem Vater lösen, der verschwunden ist?
Matar: Um erwachsen zu werden, muss man rebellieren. In meinem zweiten Roman "Geschichte eines Verschwindens" sagt der Protagonist Nuri: "Die beste Art einen Streit zu gewinnen, besteht darin, einfach zu verschwinden." Man kann nicht mit jemandem streiten, der nicht mehr da ist. Dieser Aspekt hat mich besonders interessiert.
Mein Vater und ich hatten eine sehr robuste Beziehung, wir konnten streiten. Ich war immer sehr auf Unabhängigkeit aus und das hat er stets unterstützt, auch wenn er mit dem Ergebnis nicht immer einverstanden war. Er ist genau dann verschwunden, als es Zeit für die Ablösung war und das machte es besonders schwierig für mich.
Sie schildern in Ihrem Roman "Im Land der Männer" auch Szenen der Masseneuphorie für den libyschen Diktator.
Matar: Es ist einfach nachzuvollziehen, wie eine Diktatur funktioniert. Ich wollte aber beschreiben, wie eine repressive Autorität unter den passenden Bedingungen in jeder Gesellschaft zu einer Art sozialer Psychose führen kann, was viel schwieriger ist. Das ist eine universelle Gefahr, die in unterschiedlichen Abstufungen immer existiert. Heute sehen wir Symptome dessen in Europa oder in den USA unter Trump. Der Brexit hat zum Beispiel dazu geführt, dass Intoleranz in der britischen Gesellschaft wieder erlaubt ist. Es sind sehr gefährliche Dinge, mit denen man spielt.
Über Ihr persönliches Schicksal hinaus erinnern Ihre Bücher an die enttäuschten Hoffnungen einer ganzen Generation junger Menschen im Arabischen Frühling.
Matar: Vor allem für meinen Roman "Im Land der Männer" spielt das eine große Rolle, obwohl er bereits in den Jahren 1999 bis 2004 entstanden ist. Ich interessierte mich für den Moment, als in Libyen Studenten versuchten, etwas zu verändern. Es ging mir um den Zusammenhang zwischen politischer und sozialer Kontrolle. In dem Roman gibt es den Vater, der die engen Grenzen der Politik zu spüren bekommt und die Mutter, die sozial eingeschnürt ist. Aber das sage ich aus der Retrospektive. Beim Schreiben des Buches habe ich keine bestimmte Idee verfolgt, ich lasse mich mehr von meinem Instinkt leiten.
Heute versinkt Libyen im Chaos. Sehen Sie eine Chance für eine politische Lösung?
Matar: Es gibt zwar Möglichkeiten für eine politische Lösung, aber sie sind stark abhängig von einer gewissen Qualität des Führungspersonals, die ich im Moment nicht sehe. Gerade jetzt bräuchte Libyen eine besonnene Führung, die an Dialog interessiert ist, Kompromisse schließen kann und das Beste für das Land will.
Doch solch eine politische Führung gibt es momentan leider nicht...
Matar: …Nein, leider nicht und deshalb bin ich sehr besorgt. Es gibt mehr und mehr kriminelle Organisationen und illegale Milizen in Libyen. Sie nutzen die Situation aus, um ihre eigene Macht zu festigen und finanzieren sich über Drogenhandel und Entführungen. Beides hat epidemische Ausmaße angenommen. Das ist furchtbar, weil es extrem schwierig ist, diese Banden zu entwaffnen und aufzulösen.
War es also ein Fehler, Gaddafi zu stürzen?
Matar: Viele Libyer denken so. Ich kann das zwar verstehen, trotzdem ist es für mich nicht nachvollziehbar. Die jetzige Situation ist vor allem ein Resultat von 42 Jahren schrecklicher Diktatur. Nach dem Sturz Gaddafis hatten die meisten Libyer große Hoffnungen. Natürlich müssen wir Ereignisse von ihrem Ergebnis her beurteilen, aber so einfach dürfen wir es und nicht machen.
Gilt diese Einschätzung für den gesamten Arabischen Frühling?
Matar: Viele Menschen im Nahen Osten denken, wir hätten uns diesen ganzen Arabischen Frühling sparen können. Wenn man sich die Region anschaut und den syrischen Albtraum sieht, die Lage im Jemen oder in Ägypten, wäre es dann nicht besser gewesen, die Dinge so zu belassen, wie sie waren? Für mich liegt in dieser Position eine Spur Selbsthass.
Wieso Selbsthass?
Matar: Es kommt mir so vor, als wenn eine vergewaltigte Frau sagt, vielleicht bin ja an meiner Vergewaltigung selbst schuld. So als würden wir nichts Besseres verdienen. Wir müssen dieses Statement entlarven. Die Gegenwart ist vor allem eine Folge der Herrschaft Gaddafis. Wer also den Sturz Gaddafis verurteilt, der verweigert die Auseinandersetzung mit der Realität. Wir können die Uhr nicht zurückdrehen und müssen eine reife Sicht auf die Dinge entwickeln.
Das Interview führte Claudia Mende.
© Qantara.de 2018
Hisham Matar: "Die Rückkehr: Auf der Suche nach meinem verlorenen Vater", übersetzt von Werner-Löcher-Lawrence, Luchterhand Literaturverlag, 288 Seiten, ISBN: 3641194407