Auf dem Weg ins Nirgendwo

Die innenpolitische Krise Libyens hält seit Ausbruch des Bürgerkriegs im Sommer 2014 an und erreichte dieses Jahr ihren Höhepunkt. Die politischen, sozialen, finanziellen und sicherheitspolitischen Probleme spalten das Land heute tiefer denn je. Aus Tunis informiert Houda Mzioudet.

Von Houda Mzioudet

In Libyen wetteifern drei Regierungen gleichzeitig um ihre rechtmäßige Anerkennung, während es den Bürgern des Landes wegen der Wirtschaftskrise an lebensnotwendigen Dingen wie Strom oder Bargeld fehlt. Eine bittere Ironie im Kampf um die Vorherrschaft über dieses erdölreiche Land.

Ob "Libysche Zentralbank" oder "National Oil Corporation": Die libysche Krise ist durch zersplitterte staatliche Institutionen und miteinander rivalisierende Interessengruppen gekennzeichnet. Hinzu kommen internationale Akteure, die ihre eigenen Ziele verfolgen und somit die politischen Wirren weiter vertiefen.

In Libyen stehen sich heute zwei große rivalisierende Lager gegenüber: Eines unterstützt das Repräsentantenhaus (HoR) mit Sitz in Tobruk im Osten des Landes. Das andere unterstützt den Präsidialrat mit Rückendeckung der UN. Letzterer ging wiederum aus dem Abkommen von Skhirat hervor, das im Dezember 2015 im gleichnamigen marokkanischen Seebad geschlossen wurde. Dieses Abkommen machte dann nach monatelanger UN-Vermittlung den Weg frei zu einer Regierung der Nationalen Einheit, die mittlerweile in Tripolis sitzt.

Führt das Abkommen von Skhirat in eine Sackgasse?

Ein im November veröffentlichter Bericht der "International Crisis Group" sieht im Abkommen von Skhirat ein Hindernis für einen nachhaltigen Friedensprozess zur Überwindung der nationalen Spaltung. Als Verantwortliche für die Eskalation nennt der Bericht ausdrücklich die Konfliktparteien. Konkret wird kritisiert, dass das Abkommen nicht umsetzbar sei. Der Bericht empfiehlt stattdessen eine Neufassung unter Einbeziehung aller Konfliktparteien.

Die Militarisierung des politischen Konflikts hat die Feindseligkeiten landesweit eskalieren lassen. Darunter leidet nicht zuletzt die libysche Wirtschaft. Laut des Berichts der "International Crisis Group" versuchen die beiden rivalisierenden Lager, die Kontrolle über die Öl- und Gasreserven des Landes zu gewinnen. Darin steckt reichlich Zündstoff für bewaffnete Auseinandersetzungen.

Libyan women protesting against the Government of National Accord on Martyrs Square in Tripoli, October 2015 (photo: Mahmud Turkia/AFP/Getty Images)
Aus der Traum von einer libyschen Zentralregierung: Zwei Regierungen in Ost und West beanspruchen die Führung des Landes für sich: In Tripolis im Westen nahm im Frühjahr 2016 eine UN-unterstützte Führung ihre Arbeit auf, die ihre Macht trotz Rückendeckung des Westens aber nicht maßgeblich über die Grenzen der Hauptstadt ausweiten konnte. Das international anerkannte Parlament im ostlibyschen Tobruk verweigerte zudem die offizielle Legitimierung der Einheitsregierung.

Die Teilung des Landes beeinträchtigt auch wichtige Finanzinstitutionen. So gibt es derzeit zwei nationale Zentralbanken: Die eine in der Hauptstadt Tripolis, die andere in Bengasi. Jede Zentralbank hat ihren eigenen Direktor und eine eigene Währung. Für den Osten druckt Russland die Banknoten, für den Westen Großbritannien. Die Wirtschaftskrise belastet auch die Beziehungen zwischen dem Direktor der Zentralbank in Tripolis, Sadek Al Kabeer, und Faiez Serraj, dem Präsidenten des Präsidialrats.

Doch damit nicht genug: Auch die Sicherheitslage im Land verschlechtert sich zunehmend. Marodierende Milizen bedrohen die Zivilbevölkerung und Schlepperbanden verdienen am Flüchtlingsstrom nach Europa kräftig mit. Die Bürger sind dem kriegerischen Tauziehen hilflos ausgesetzt.

Machtvakuum als Chance für den "Islamischen Staat"

Im Sommer 2014 trafen sich libysche Gruppierungen aus dem Osten, Westen und Süden des Landes in Ghadames, Genf und anschließend in Skhirat. Die Gespräche fanden im Rahmen der UN-Friedensbemühungen statt, woraus schließlich das im Dezember 2015 unterzeichnete Abkommen von Skhirat hervorging.

Es legte die Grundlagen für die Regierung der Nationalen Einheit (GNA). Die Bevölkerung im Osten des Landes lehnte das Abkommen jedoch ab, da es die "Libyan National Army" unter dem Kommando von General Chalifa Haftar nicht einbezieht. Auch die Nationale Heilsregierung als Nachfolgerin des Nationalen Generalkongresses (GNC) in Tripolis und ihr militärischer Arm "Libya Dawn" sowie weitere örtliche Milizen stimmten dem Abkommen nicht zu.

Das daraus entstehende Chaos machte sich der IS zunutze, der in der Stadt Sabratha nahe der tunesischen Grenze ein Ausbildungscamp betrieb. Anfang des Jahres flogen die USA dort Luftangriffe gegen den IS und weitere Extremistengruppen. Die Nationale Heilsregierung in Tripolis schien das nicht zu beeindrucken. Sie setzte ihre Blockade der Regierung der Nationalen Einheit fort und manifestierte somit die politische Krise.

Die Regierung der Nationalen Einheit kehrte im März 2016 in einer "Nacht-und-Nebel"-Aktion aus ihrem tunesischen Exil nach Tripolis zurück. Premierminister Faiez Serraj befand sich als Vorsitzender des Präsidialrats in einer kritischen Lage: Während er sich dem Aufbau seiner neuen Regierung in Tripolis widmete, war er durch Milizen, ständig wechselnde Allianzen und eine sich zuspitzende Gefahrenlage bedroht. Bevor er mit Unterstützung örtlicher verbündeter Brigaden seinen Amtssitz in der Hauptstadt beziehen konnte, saß er praktisch im Marinehafen Abu Sitta in Tripolis fest.

Supporters of Khalifa Haftar drive past the Zueitina oil terminal west of Benghazi (photo: Reuters/E. Omran Al-Fetori)
Kampf um Macht und Ressourcen: An der Front im Osten versuchte General Chalifa Haftar mit seiner "Libyan National Army" in der Operation Dignity seinem Rivalen Ibrahim Jadhran und dessen "Petroleum Facilities Guard" die Ölfelder zu entreißen. Die Operation führte zu blutigen Konfrontationen zwischen beiden Gruppierungen.

Der Präsidialrat als Exekutive der Regierung der Nationalen Einheit unterstützt zwar die Anti-IS-Koalition "Al-Bunyan al-Marsus" ("Solider Bau") unter Beteiligung der USA, setzt sich aber nicht energisch genug gegen eine Reihe bewaffneter Gruppen durch, die immer noch außer Kontrolle sind.

Kampf für einen funktionsfähigen Staat

Der erfolgreiche Verlauf der Anti-IS-Operation stärkte der Regierung der Nationalen Einheit zwar den Rücken, aber dennoch muss sie die kritischen Gruppierungen im Osten davon überzeugen, das Land tatsächlich führen zu können. Das Repräsentantenhaus (HoR) in Tobruk äußerte Bedenken gegen die von Premierminister Serraj ausgewählten Minister. Deren Bestätigung durch das Parlament in Tobruk steht weiterhin aus.

An der Front im Osten versuchte General Chalifa Haftar mit seiner "Libyan National Army" in der Operation Dignity seinem Rivalen Ibrahim Jadhran und dessen "Petroleum Facilities Guard" die Ölfelder zu entreißen. Die Operation führte zu blutigen Konfrontationen zwischen beiden Gruppierungen.

Ein Hoffnungsschimmer glomm dennoch mit der Wiederaufnahme der Ölproduktion im September 2016 auf. Die Wirtschaft war davon allerdings nicht nachhaltig beeindruckt: Auf dem libyschen Schwarzmarkt werden weiterhin Wucherpreise für den US-Dollar verlangt. All das macht es Premierminister Serraj schwer, sein Versprechen auf bessere Lebensbedingungen für die Menschen einzulösen.

Libyen kämpft um sein Überleben als funktionsfähiger Staat. Seine bloße Existenz gefährdet die ohnehin fragile Lage seiner Nachbarn und die des gesamten Mittelmeerraums. Der nächsten US-Regierung unter Donald Trump dürfte die libysche Krise wohl als problematische Erbschaft mit unliebsamen Überraschungen erhalten bleiben.

Houda Mzioudet

© Qantara.de 2016

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers