''Manche haben eine Blockade im Kopf''
Hand aufs Herz, Frau Çalışkan: Haben Sie Bammel vor Ihrem neuen Job als Chefin bei Amnesty Deutschland?
Selmin Çalışkan: Ich habe keinen Bammel, ich habe Lust auf Aufgaben! Man kann mich eigentlich überall abspringen lassen mit dem Fallschirm - ich bringe bislang immer etwas zustande. Es ist wunderbar, mit Amnesty die Ärmel hochzukrempeln.
Ihre Vorvorgängerin Monika Lüke hat sich auch mit Elan auf ihre Aufgaben gestürzt - und scheiterte.
Çalışkan: Es kann überall vorkommen, dass beide Seiten nicht zusammenkommen. Aber das ist ein einzelner Fall in der 50-jährigen Geschichte von Amnesty. Angesichts der Riege meiner Vorgängerinnen und Vorgänger, die alle lange im Amt des Generalsekretärs geblieben sind, bin ich da völlig beruhigt.
Eines Ihrer ersten Projekte richtet sich nicht an repressive Staaten. Warum braucht Deutschland einen "Menschenrechts-TÜV"?
Çalışkan: Bislang fördert Deutschland Projekte, ohne dass vorher geprüft wird, ob sie menschenrechtlichen Standards genügen. Besser wäre es, vor deren Start zu kontrollieren, ob und inwieweit die Kriterien eingehalten werden. Das Entwicklungsministerium plant jetzt, einen solchen "Menschenrechts-TÜV" einzuführen.
Aber wir brauchen ihn auch für das Verteidigungs-, Wirtschafts- und Innenministerium. Allerdings habe ich in meiner bisherigen Arbeit zum Beispiel zu Afghanistan festgestellt, wie schwer sich die Kooperation verschiedener Bundesministerien untereinander gestaltet.
Was ist denn ein Projekt, das Menschenrechtskriterien außer Acht lässt?
Çalışkan: Das kann zum Beispiel der Bau einer Berufsschule sein, die nur Jungs aufnimmt. Da muss zumindest gleichzeitig etwas für das Recht auf Bildung für die Mädchen getan werden. Dann: Die Ausbildung von Polizisten und Soldaten in Afghanistan. Da muss mehr Menschenrechtsbildung auf dem Lehrplan stehen. Sonst werden auch die neu ausgebildeten Rekruten keine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung nehmen, dabei sollten sie ja deren Rechte schützen. Ein weiteres großes Thema, das damit zusammenhängt und womit sich Amnesty zurzeit stark beschäftigt, ist der Waffenhandel.
Im März wollen die Vereinten Nationen in New York über einen internationalen Vertrag zur Kontrolle des Waffenhandels beraten. Wie bewerten Sie die Rolle der deutschen Regierung bei den Verhandlungen?
Çalışkan: Bislang spielt die Bundesregierung eine positive Rolle. Vor allem US-Präsident Barack Obama muss sich bewegen, damit endlich ein verbindlicher Vertrag entsteht, auf den wir uns berufen können. Amnesty schickt 20 Fachleute aus aller Welt nach New York, die in Gesprächen dafür werben, dass die Regeln möglichst streng sind und Schlupflöcher geschlossen werden. Aber auch hier in Deutschland drängen wir darauf, dass die Waffenexporte besser kontrolliert werden.
Bislang entscheidet der vertraulich tagende Bundessicherheitsrat, der aus Regierungsmitgliedern besteht, über den Verkauf deutscher Rüstungsgüter ins Ausland.
Çalışkan: Es kann nicht sein, dass ein kleiner, geheimer Klub darüber entscheidet, welches Land deutsche Panzer und Schusswaffen erhält. Aber auch das Wirtschaftsministerium, das ja viele Waffenexporte genehmigt ohne den Bundessicherheitsrat einzuschalten, müsste besser kontrolliert werden. Dazu brauchen wir eine rechtlich verbindliche Menschenrechtsklausel für Rüstungsexporte. Wir werden bei Bundestagsabgeordneten dafür werben. Die Abgeordneten sollten Informationen und Kontrollrechte ruhig selbstbewusster einfordern.
Speist die Regierung das Parlament mit zu wenig Informationen ab?
Çalışkan: Manchmal, ja. Das Parlament wurde beispielsweise im Vorfeld von Mandatsverlängerungen zu Afghanistan nicht ausreichend und zu kurzfristig informiert. Ich empfinde das als Skandal für unsere Demokratie. Auch bei den Waffenexporten informiert die Regierung nicht umfassend und rechtzeitig.
Das, aber auch die Flüchtlingspolitik werden wir im Wahljahr 2013 verstärkt thematisieren. Amnesty wird die Parteien anhand von Wahlprüfsteinen daran messen, inwiefern ihre Politik menschenrechtskompatibel ist.
Wo setzen Sie mit Ihrer Lobbyarbeit an? Bei den Abgeordneten, bei Spitzenpolitikern, bei Bürokraten?
Çalışkan: Wir sind mit allen im Gespräch. Oft sind die Ansprechpartner in der zweiten Reihe für uns wichtiger. Es sind diejenigen, die das operative Tagesgeschäft bestimmen. Dort ist es wichtig, Pflöcke einzuhauen. Aber auch Kontakte mit Spitzenpolitikern sind wichtig. Vor einiger Zeit gab es etwa ein Gespräch mit dem Bundespräsidenten.
Joachim Gauck besuchte vor wenigen Tagen als erster Bundespräsident den UN-Menschenrechtsrat und hielt eine Rede, in der er die Rolle der NGOs hervorgehoben hat. Ist der Präsident ein Verbündeter?
Çalışkan: Joachim Gauck ist schon aufgrund seiner Vita besonders sensibel, wenn es um Freiheits- und Menschenrechte geht. Er zeigt bisher großes Engagement in dieser Frage. Jetzt muss die Bundesregierung nachlegen. Deutschland sitzt nämlich wieder im Menschenrechtsrat. Bisher trat es aber ziemlich zögerlich auf, wenn es um die konkrete Situation in bestimmten Ländern geht, wie zum Beispiel Sri Lanka. Wir werden das Auswärtige Amt erinnern, dass es nicht reicht, allgemeine Resolutionen zu verabschieden, wenn dann nicht für deren Umsetzung gesorgt wird. Gaucks Engagement ist ein zusätzliches Argument, das hilft. Es stärkt Nichtregierungsorganistionen den Rücken.
Es ist die Strategie von Amnesty Deutschland, sich primär um Menschenrechte im Ausland zu kümmern. Wäre es nicht an der Zeit, diese Regel aufzuweichen?
Çalışkan: Amnesty ist auch deshalb so erfolgreich, weil wir von hier aus ein Sprachrohr für Menschenrechtsaktivisten in repressiven Staaten sein können. Wir können immer wieder die Freilassung von politischen Gefangenen erreichen, weil wir uns von überall auf der Welt für sie einsetzen. Wir werden aber auch in Deutschland tätig. Schon vor einigen Jahren hat Amnesty exzessive Polizeigewalt in Deutschland thematisiert und die Kennzeichnungspflicht gefordert.
Da gibt es in der Tat noch viel zu tun, nicht nur wegen des Falles von mutmaßlicher Polizeibrutalität in München. Deutschland braucht für solche Fälle endlich unabhängige Untersuchungsgremien. Wenn die Polizei gegen sich selbst ermittelt, wird oft nicht richtig aufgeklärt. Amnesty berät auch schon seit Jahren Asylsuchende in Deutschland und fordert eine Asylpolitik, die den Schutz und die Rechte von Flüchtlingen in den Vordergrund stellt. Aber unser Schwerpunkt bleibt, schwere Menschenrechtsverletzungen weltweit zu bekämpfen.
Derzeit tobt in Syrien ein grausamer Bürgerkrieg, unzählige Menschen sind auf der Flucht. Reichen die humanitären Maßnahmen der Bundesregierung aus?
Çalışkan: In Bezug auf Flüchtlinge auf keinen Fall. Deutschland tut nicht genug. Dabei wäre es so einfach, vielen Betroffenen zu helfen. Denjenigen Syrern, die in Deutschland Familie haben, sollte es möglich sein, schnell und unbürokratisch hierherzukommen. Die Bundesregierung sollte schnellstens tätig werden. Das wäre auch ein Zeichen der Solidarität gegenüber den syrischen Nachbarländern, die mit etwa 900.000 syrischen Flüchtlingen an die Grenzen ihrer Aufnahmekapazitäten gelangt sind.
Immerhin leistet die Bundesregierung finanzielle Hilfe für die Versorgung syrischer Flüchtlinge in der Region.
Çalışkan: Das sollte sie fortsetzen. Außerdem wird Syrern hier im Asylverfahren derzeit fast immer Schutz gewährt. Doch die meisten syrischen Flüchtlinge mussten auf gefährlichen und teilweise illegalen Wegen fliehen, bis sie endlich einen Asylantrag in Deutschland stellen konnten.
Auch Flüchtlinge, die bei ihren syrischen Verwandten in Deutschland unterkommen wollen, erhalten kein Visum. Die gesetzlichen Hürden des Familiennachzugs sind einfach zu hoch. Deshalb fordern wir eine großzügige Aufnahme syrischer Flüchtlinge, die Familienangehörige in Deutschland haben. Eine solche Entscheidung sollte die Bundesregierung jetzt treffen und in der EU dafür werben, statt abzuwarten, bis sich alle EU-Staaten zur Aufnahme syrischer Flüchtlinge durchringen.
Sie sind die erste deutsche AI-Generalsekretärin mit Migrationshintergrund. Wird mit Ihnen Amnesty internationaler?
Çalışkan: Amnesty ist schon jetzt international. Aber ich hoffe schon, dass ich dazu beitragen kann, dass bei Amnesty in Deutschland noch mehr Menschen mitmachen - gerade aus Einwandererfamilien.
Werden Sie sich auch zur Türkei äußern?
Çalışkan: Selbstverständlich. Wenn mich türkische Medien fragen, werde ich auch die Menschenrechtsverletzungen und Missstände dort anprangern. Ich werde die Inhaftierung von Journalisten ebenso benennen wie die Diskriminierung ethnischer Minderheiten oder die mangelnde Religionsfreiheit für Christen und Aleviten.
Frau Çalışkan, Sie haben sich schon als Jugendliche sozial engagiert. Was hat Sie so früh politisiert?
Çalışkan: Meine Eltern kamen Anfang der 60er Jahre nach Deutschland. Sie stießen auf Offenheit, wir hatten viele Kontakte zu deutschen Familien. Das Klima änderte sich Ende der 70er Jahre mit dem "Anwerbestopp" für Gastarbeiter. Unsere Eltern diskutierten jeden Abend, ob sie die Abfindung für eine Rückkehr in die Türkei annehmen sollten. Davor haben wir Kinder gezittert, denn meine Heimat war und ist Deutschland.
Ich bin mit dem Satz aufgewachsen: "Nächstes Jahr ziehen wir in die Türkei." Das passierte zwar letztendlich nicht, aber diese Angst hat mich mit zehn, elf Jahren dazu gebracht, mich mit unserer Situation, aber auch mit der Rolle von Mädchen und Frauen in türkischen Familien auseinanderzusetzen. Wenig später habe ich damit begonnen, mich mit dem Schicksal der deutschen Juden zu beschäftigen.
Wie kamen Sie als Mädchen mit türkischem Wurzeln zu diesem Thema?
Çalışkan: In der Schule. Lehrerinnen und Lehrer am Gymnasium - Ausläufer der 1968er Generation - haben mich geprägt. Wir lasen damals das Buch "Damals war es Friedrich". Darin wird die Geschichte eines deutschen Jungen erzählt, der plötzlich nicht mehr in die Badeanstalt darf - weil er jüdisch ist. Er ist fassungslos, weil für ihn klar ist: "Wir gehören doch hierher!" Ich habe diese Fassungslosigkeit auch empfunden, wenn ich selber auf Ablehnung und Feindseligkeit stieß. Das war der Anstoß für mein politisches Engagement.
Welchen Diskriminierungen waren Sie ausgesetzt?
Çalışkan: Wir haben oft nur heruntergekommene Wohnungen mieten können. Mein Vater war dauerhaft arbeitslos, weil es klar war, dass das Arbeitsamt ihm, dem Türken, erst nach den Deutschen und EU-Ausländern einen Job anbietet. Noch vor zehn Jahren habe ich selbst in Berlin eine Wohnung nicht bekommen, weil man mir klar signalisierte: "An Türken vermieten wir nicht." Manche Menschen haben einfach eine Blockade im Kopf. Da kann man "integriert" sein, wie man will.
Interview: Viktoria Großmann und Oliver Das Gupta
Selmin Çalışkan, Jahrgang 1967, kam als Kind türkischer Gastarbeiter im nordrhein-westfälischen Düren zur Welt. Schon als Schülerin half sie Migranten, später initiierte sie einen interkulturellen Mädchentreff in Bonn. Çalışkan war mehrere Jahre für die Frauenorganisation Medica Mondiale tätig, später arbeitete sie in Afghanistan für die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). Ab 1. März tritt die Mutter einer erwachsenen Tochter offiziell ihr Amt an als Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International.
© Süddeutsche Zeitung 2013
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de