"Ich liebe die Freiheit"
Frau Adouani, im Frühjahr 2015 ist von Ihnen der deutsch-arabische Gedichtband "Meer Wüste" erschienen. Darin heißt es: "Ich habe die Augen eines Falken, die Flügel einer Taube, und eine Kehle aus Metall". Warum eine Kehle aus Metall?
Najet Adouani: In meiner Kehle nistet der Schmerz all derer, denen ich eine Stimme verleihe. Für sie muss ich stark sein wie ein Vogel – ein Vogel mit kräftigen Schwingen. Nur wer stark ist, kann sich friedlich zur Wehr setzen gegen die Gewalt und die Brutalität von Diktaturen. Meine Gedichte gelten daher all jenen, die der Freiheit bedürfen, die Frieden und Sicherheit benötigen.
In einem anderen Gedicht schreiben Sie: "Weil Gott die Dichter auserwählt hat, grub er ihnen auf jedem Pfad eine Grube". Ihnen auch?
Adouani: Gott und die Polizei sind ein und dasselbe: Beide wollen dem wahren Wort eine Falle stellen – dem freien Wort, dem Wort, das ausdrückt, was wirklich ist. Ich aber wehre mich dagegen, von beiden Mächten eingeschränkt zu werden. Beide wollen mich einsperren, ich aber brauche die Weite.
In vielen der Gedichte erweisen Sie ihrer Großmutter, die eine Berberin war, eine Hommage. Das Umherziehen ist Teil der Berber-Kultur. Inwieweit sind Ihre Gedichte durch das Reisen selbst geprägt?
Adouani: Ich habe sehr früh mit dem Schreiben begonnen – im Garten meiner Mutter, im Haus meiner Kindheit, das viel Weite bot und alles hatte, was man brauchte. Und dann begann ich mit meinen Worten zu reisen. In mir steckt eine Beduinin. Deshalb bin ich immer auf Reisen, selbst wenn ich an einem Ort weile. Ich liebe die Freiheit – ich hasse Grenzen und Mauern. Ich mag daher auch, wenn mein Haus einen Balkon besitzt. Denn von einem Balkon aus steht mir sowohl meine Vergangenheit als auch meine Zukunft offen.
Seit 2012 leben Sie weit weg von Ihrer Heimat, umgeben von einer fremden Sprache. Was bedeutet das für Sie als Schriftstellerin?
Adouani: Selbst als ich noch in Tunesien war, hielt ich mich überwiegend woanders auf. Ich musste mein Land Anfang 1983 schon einmal verlassen und lebte lange außerhalb Tunesiens. Ich kehrte nur wenige Male zurück, um meine Mutter zu sehen, die dort noch immer lebt. Generell aber schreibe ich nicht für eine bestimmte Zielgruppe, weder nur für Tunesier noch für ein rein arabisches Publikum. Ich wende mich an jeden einzelnen Menschen, fernab von Raum und Zeit.
Was fühlen Sie angesichts der anhaltenden Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer?
Adouani: Das menschliche Leben ist in meinen Augen das Kostbarste, was es auf dieser Welt gibt. Ich finde es daher schrecklich mit ansehen zu müssen, wie jeden Tag junge Menschen ertrinken, die vor Diktaturen oder Hunger fliehen, oder weil sie keine Heimat mehr haben. Ich bin nicht für, sondern gegen illegale Immigration. Aber ich bin auch gegen immer mehr Grenzen, gegen Mauern, Internierungslager und Gesetze, die es erlauben, diese Menschen zurückzuschicken oder zu verhaften. Solange in ihren Ländern Diktaturen, Arbeitslosigkeit und Armut herrschen, werden sie kommen. Sie kommen, weil es das Letzte ist, was ihnen bleibt. Es ist ihre Art, Selbstmord zu begehen. Ich persönlich habe keine Lösung parat, ich weiß nur eins: Wir werden sie nicht aufhalten können.
Sie selbst sind nun in Berlin als Gast des "Writers in Exile"-Programms des deutschen PEN. Einerseits bedeutet das für Sie Sicherheit. Andererseits kann ein solches Label – "Writer in Exile" – auch zu einer Art Gefängnis werden.
Adouani: Manchmal hat man keine Wahl. Im Exil zu sein, ist besser als im Gefängnis, wo den Menschen schreckliche Dinge angetan werden können. Ich bin nicht im Gefängnis. Ich bin in einer wunderbaren Stadt, die ich liebe und die ein Teil von mir zu werden beginnt. Wenn ich die Stadt verlasse, vermisse ich sie. Ich habe hier allmählich Freunde gewonnen. Und da ist der PEN, der mir und den anderen, die hier sind, enorm geholfen hat, indem er es möglich machte, uns wieder ein Leben aufzubauen: nicht nur zu überleben, sondern zu leben – und zu schreiben. Wenn ich nicht hier wäre, wer weiß, was dann aus mir geworden wäre? Vielleicht wäre ich im Gefängnis gelandet, wie viele andere, die ich kenne. Es ist also soweit alles in Ordnung mit mir – trotz meiner Einsamkeit, trotz der Tatsache, dass ich viele Menschen vermisse, wie beispielsweise meine Familie.
Worüber schreiben Sie gerade hier in Berlin?
Adouani: Jeder Ort hat sein eigenes Parfüm. Die Gedichte, die im Moment entstehen, tragen also den Duft dieser Stadt. Ich habe begonnen, eine neue Sprache, eine neue Technik, neue Metaphern zu verwenden – vor allem aus der Alltagssprache. Die Alltagssprache ist die Sprache der heutigen Generation. Und was ihr widerfährt, was diese Generation erleidet, müssen wir in eine neue Sprache kleiden. Meine Leser wird das vielleicht schockieren…
Die Tatsache, dass Sie schon zweimal aus Ihrer Heimat fliehen mussten, spielt nur eine marginale Rolle in Ihren Gedichten. Mir scheint, es ist generell schwer, der Flucht in Literatur habhaft zu werden.
Adouani: Als ich Tunesien Anfang 1983 zum ersten Mal verlassen musste, verließ ich es völlig überstürzt. Ich war sehr jung und sehr verängstigt. Meine Mutter hatte mich dazu gedrängt. Sie sagte: Ich möchte dich nicht vor meinen eigenen Augen sterben sehen. Auch dieses Mal musste alles sehr schnell gehen. Wenige Stunden vor Abflug meines Flugzeugs saß ich noch immer auf dem Bett. Ich war wie gelähmt. Ich habe mich nicht von meiner Mutter verabschiedet, nicht von meinen Söhnen. Denen sagte ich, ich fahre in Urlaub. Als das Flugzeug abhob, war mein Kopf leer. Alles hörte auf in mir. Da war nur Kälte, Blindheit, Nichts.
Die jungen Menschen, die sich dem Meer in diesen kleinen Booten entgegenwerfen, sind mir also bestens vertraut. Ich kenne ihre Hoffnungslosigkeit. Wie sie ihre Tage zubringen, die ihre Mütter um etwas Kleingeld bitten, um ins Café zu gehen. Sie gehen weg, weil sie nichts haben, außer ihr Leben. Aber selbst wenn man über Schmerzhaftes schreibt, breitet man seine Flügel aus. Ich versuche das immer. Den anderen zuliebe, die keine Stimme haben, muss ich frei sein. Nichts kann mich davon abhalten, meine Schwingen auszubreiten.
Das Interview führte Claudia Kramatschek.
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