"Viele der heutigen Globalisierungsakteure halten Ungleichheit für eine Tugend"
Die Globalisierung gilt als Phänomen, dem zumindest in einer so entwickelten Gesellschaft wie der Bundesrepublik niemand entkommen kann. Hat die Globalisierung Ihr Leben verändert?
Ernst Ulrich von Weizsäcker: Alle Entwicklungen vor dem Beginn der 90er-Jahre verdienen den Terminus Globalisierung nicht. Die Globalisierung begann, als sich die modernen Kommunikationstechniken explosiv über die ganze Erde ausbreiteten und als sich die ideologischen Systeme aufzulösen begannen. Am Anfang, so zwischen 1990 und 1992, stand die globale Umweltverantwortung und die Hoffnung auf Friedensdividenden. Doch bald hat dieses globale und gleichzeitig verantwortungsvolle Thema niemanden mehr interessiert. Es gab einen Paradigmenwechsel, Desillusionierung machte sich breit. Bis 1992 hatten wir den Wiedervereinigungsboom, der dann zu Ende ging. Schließlich stiegen die Arbeitslosenzahlen rasant. Die gemütlichen 80er-Jahre waren mit einem Schlag vorbei. Es bildete sich die Erkenntnis, dass man nicht mehr national Parlamentarisch autonom, sondern von den Weltfinanzmärkten abhängig ist. Zum Beispiel von Fidelity. Das ist der größte Finanzanleger der Welt - mit schätzungsweise 800 Milliarden Dollar Anlagevermögen, mit Einfluss und Aufsichtsräten in der ganzen Welt. Der erzählt der koreanischen, deutschen, italienischen und kanadischen Wirtschaft, welche Renditeerwartungen heute gelten.
Eine bittere Erkenntnis. Das heißt, in der Welt fällen andere die Entscheidungen als die klassischen Nationalstaaten, die wir noch aus Politiklehrbüchern kennen?
von Weizsäcker: Nationale Parlamente sind nur noch eingeschränkt in der Lage, sozialen Ausgleich zu schaffen. Die seit Einführung der Einkommenssteuer geltende Regel, dass die Reichen prozentual mehr Steuern zahlen als die Mittelreichen und als die Armen, ist seit 1990 gebrochen. Die Reichen haben seither prozentual weniger Steuern gezahlt als die Normalverdiener. Wir haben eine Verlagerung des Steueraufkommens von Vermögen und Kapital zu Arbeit und Konsum. Das ist das Phänomen. Das Kapital ist mobil, Arbeit und Konsum sind nicht mobil. Es wird äußerst schwierig, das Kapital zu besteuern. Fast das Einzige, was man da noch machen kann, ist das, was die Österreicher angefangen haben und wir wohl nachmachen werden, die Abgeltungssteuer.
Kapital ist nicht mehr an Nationen gebunden, sondern es ist free- floating. Man kann es nicht mehr fassen?
von Weizsäcker: Richtig. Auch vor 1990 war das Kapital schon international und mobil. Aber es ist eine Art von Selbstverpflichtung eingegangen, sich in den sozialen Konsens, wie er vorbildhaft in Schweden und (West-)Deutschland bestand, einzukaufen, um zu verhindern, dass diese Länder in sowjetischen Einflussbereich kommen.
Diesen Konsens hat man sich bis 1990 eine Menge Geld kosten lassen. 1990 gab es den ideologischen Konkurrenten nicht mehr. Seither zwingt der globale Wettbewerb um gute Kapitalrenditen zu einem Kostenbewusstsein, welches eine teure Konsensgesellschaft nicht mehr stützen möchte.
Bis vor zehn Jahren hatte das Kapital politische Interessen, heute hat es nur noch Kapitalinteressen. Gibt es keine Gegenmacht?
von Weizsäcker: Bis 1990 war der Staat, war die Wählerschaft das wichtigste Gegengewicht. Neuerdings entwickelt sich eine neue, eine dritte Akteursgruppe, das ist die Zivilgesellschaft. Sie ist extrem uneinheitlich. Sie verbindet ein gerüttelt Maß Skepsis gegenüber der Privatwirtschaft, aber auch ein gerüttelt Maß Skepsis gegenüber den Staatsbürokratien.
Wer genau ist denn die Zivilgesellschaft?
von Weizsäcker: So genau ist sie nicht definiert. Sie umfasst alte und neue Gruppen, die Gewerkschaften und das Rote Kreuz, Umweltgruppen wie WWF, Greenpeace und Friends of the Earth. Es sind menschenrechtlich orientierte Gruppen wie amnesty international oder Médicins sans frontiéres. Dann natürlich die Scientific Community. Es gibt einen International Council of Scientific Unions, und die sind inzwischen ein mächtiger Mitspieler. Auch der Weltrat der Kirchen, die katholischen Kirchen, die christlichen Werke, aber auch islamische Gruppen sowie ungezählte Dritte-Welt-Gruppen. In den USA und Europa gibt es die meisten zivilgesellschaftlichen Gruppen. Aber seit etwa 1990 sprießen sie auch in Osteuropa und der Dritten Welt massenhaft aus dem Boden.
Haben Sie Angst vor der Globalisierung?
von Weizsäcker: Nein, ich habe keine Angst. Aber ich bin nicht blind. Manches von der schonungslosen Analyse habe ich von Hans-Olaf Henkel, dem gerade ausgeschiedenen Chef des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, gelernt. Er hat genau gesehen, dass der Wettbewerb der Systeme abgelöst wird durch den Wettbewerb der Standorte. Und dass dies die Auflösung der Konsensgesellschaft zur Folge hat.
Und was ist die Schlussfolgerung daraus? Wie kann eine Lösung aussehen, die die Tatsache, dass der Wettbewerb der Standorte besteht, also die Globalisierung im vollen Gang ist, nicht leugnet und trotzdem die Wiederherstellung der Konsensgesellschaft zum Ziel hat?
von Weizsäcker: Das ist genau die Frage. Und genau diese Antwort, also eine zivilisationsphilosophische Antwort, möchte ich am Ende der Enquete-Kommission geben können: Wie schafft man es, dass das Kapital nicht nur im Sinn des Profits denkt und agiert, sondern auch im Sinn der Moral und wieder einen Konsens herstellt.
Das jüngste Beispiel internationaler Politik bezüglich eines ökologischen Ziels, die Konferenz von Den Haag, stimmte einen ja nicht sehr optimistisch...
von Weizsäcker: Das ist leider richtig. Auf einen Karikatur-Nenner gebracht: der American way of life steht dem Klimaschutz entgegen. Es kann Jahrzehnte dauern, bis dieser Konflikt gelöst ist. Im Zentrum der Lösung steht für mich die revolutionäre Verbesserung der Energieeffizienz. Wenn die um einen Faktor vier zunimmt, können wir den weltweiten Wohlstand verdoppeln und zugleich Klimaschutz und den Ausstieg aus der Kernenergie betreiben. Erneuerbare Energiequellen können auffüllen, was dann noch nötig ist.
Es gibt die Klage, die Dritte Welt leide unter der Globalisierung. Andere behaupten, gerade die Globalisierung bringe der Dritten Welt Gerechtigkeit, weil sie ermöglicht, mit der Ersten Welt zu konkurrieren und mit dem Vorteil billigerer Löhne viele Aufträge zu ergattern. Was ist richtig?
von Weizsäcker: Die Industrie, die Banken und viele Ökonomen behaupten, die Dritte Welt sei auf der Hauptgewinnerseite der Globalisierung, abzulesen am wachsenden Durchschnittswohlstand der Schwellenländer und vieler Entwicklungsländer. Das Verrückte ist nur, dass in der gleichen Zeit, wo die Dritte Welt große Wachstumsraten hat, die Zahl der Verhungernden, der politisch Verfolgten, der in absoluter Armut Lebenden eher zunimmt und nicht etwa abnimmt, insbesondere in Afrika. Die Zahl der Millionäre und Milliardäre wächst weltweit viel rascher als das Pro-Kopf-Einkommen. Die Ungleichheit hat zugenommen. Eine wichtige Erkenntnis verdanken wir dem Ökonomie-Nobelpreisträger Amartya Sen: In Ländern mit Demokratie gibt es praktisch keine Verelendung.
Und dass Ungleichheit, wie Hans Olaf Henkel sagt, die Voraussetzung von Weiterentwicklung und Zugewinn für alle ist, das akzeptieren Sie nicht?
von Weizsäcker: Viele der heutigen Globalisierungsakteure halten Ungleichheit für eine Tugend, weil sie den Anreiz verschärft, sich anzustrengen. Oder sie halten die Ungleichheit für eine unausweichliche Folge davon, dass die globale Multiplikation von Ideen, Verfahren, Erfindungen oder auch Popstar-Produkten riesige Prämien für einige wenige abwirft. Wenn Michael Jackson einen neuen Song hat, ist die Millionenauflage garantiert. Wenn ein Unbekannter das Gleiche tut, versagt die globale Multiplikation. The winner takes all, heißt das Motto. Manchmal heißt es auch: The fastest takes all. Ob der Schnellste der Beste ist, ist manchmal gar nicht so wichtig. Wichtig bei der globalen Multiplikation sind bekannte, verlässliche Markennamen. "Nestlé" oder "Shell" oder "Nike" sind berühmt als Marken. Sie sind aber genau deshalb verwundbar an ihrem Image. Wenn ich heute mit einem führenden globalisierenden Industrievertreter rede, spüre ich dessen Angst vor den Sturzverlusten, die es geben kann, wenn an dem guten Image des Konzerns gekratzt wird. Hier liegt ein Teil der Kraft der Zivilgesellschaft. Wenn sie problematische Verhaltensweisen eines Konzerns aufdeckt, kann es für diesen sehr problematisch werden.Wie kann die Enquete-Kommission mit diesem Phänomen umgehen?
von Weizsäcker: Nun, zunächst beschreibend. Dann kann man sich mit der Rolle der Zivilgesellschaft in der global governance beschäftigen. Ferner können wir die Probleme benennen, die das "Winner-takes-all-Phänomen" mit sich bringt. Die Gerechtigkeitsphase, die Steuerfrage, aber auch die Frage, ob sich das System noch zuverlässig selber stabilisiert. George Soros, einer der erfolgreichsten Kapitalisten aller Zeiten, meint, es stabilisiert sich nicht von selbst. Die Kommission könnte über Stabilisatoren für die Weltwirtschaft nachdenken.
Was können das für Stabilisatoren sein?
von Weizsäcker: Viele Vorschläge hat ein internationales Forum für Finanzmarktstabilität gemacht. Ich gehe jetzt auf die nicht ein. Ein noch weiter gehender Vorschlag ist die Tobin-Steuer. James Tobin, ein amerikanischer Ökonomienobelpreisträger, hat schon in den 70er-Jahren eine Kapitaltransfersteuer vorgeschlagen. Eine sehr kleine Steuer, die aber antispekulativ wirkt. Das war in den 70er-Jahren eine schlafende, intellektuelle Idee. Seit etwa zehn Jahren hat sie die internationale Diskussion erreicht. Belgien und Kanada haben immerhin bereits Prüfaufträge gegeben.
Gibt es denn irgendeine Möglichkeit, dass das Kapital wieder politisch wird, also die Handelnden, die diese Kapitalströme an globalen, an allgemeinen, nicht-egoistischen Zielen orientieren. Wie muss eine neue Wirtschaftsethik aussehen?
von Weizsäcker: Einige Hoffnungen setze ich auf Ethik-Fonds vor allem für die private Altersvorsorge. Die haben Konjunktur und wachsen rascher als der Durchschnitt. Calvert ist ein großer Investitionsfonds in den USA, der sich mit Hazel Henderson zusammengesetzt hat, eine der großen Ethikspezialistinnen in den Vereinigten Staaten. Sie haben metrische Indikatoren für moralische Kategorien aufgestellt, also ein Modell zur Objektivierung von Entscheidungen mit ethischem Hintergrund entworfen. Dafür bauen sie ein Imperium für eine ethische Orientierung auf. Hazel hat mir erzählt, dass heute schon 2,2 Billionen Dollar in ethischen Investments stecken. Weil die Amerikaner mit Auswüchsen des Shareholder Values schon viel länger vertraut sind, ist der entsprechende Gegenschlag des Pendels auch sehr viel weiter.
Es gibt Wissenschaftler wie Ihren Bruder, den Kölner Ökonomen Professor Carl-Christian von Weizsäcker, der sagt, grundsätzlich bringt Globalisierung oder Handel auch Demokratie. Denn jedes Land, das sich am Handel beteiligen will, muss sich auch ordentlich verhalten.
von Weizsäcker: Da ist auch etwas dran. Er ist ein Pro-Anwalt und hat über Globalisierung auch ein sehr gescheites Buch geschrieben. Für die Marktwirtschaft ist der Rechtsstaat, die Meinungsfreiheit und eine die Kapitalinteressen respektierende Demokratie ein großer Vorteil. Die Marktwirtschaft hat auch kein Interesse an der Verelendung. Aber sie belohnt die Starken, die Tüchtigen auch dann, wenn es den weniger Tüchtigen dreckig geht und wenn die Umwelt Schaden nimmt. Ohne die entsprechenden ethischen und ökologischen Gegengewichte kann die globalisierte Marktwirtschaft ruinös werden.
Hat das Wort Kapitalismus für Sie einen bösen Klang?
von Weizsäcker: Einen bösen Klang, nein. Ich sehe, dass die Marktwirtschaft ohne Alternative ist. Und dann ist das Wort böse sinnlos.
Einen kalten Klang?
von Weizsäcker: Ja, Kapitalismus hat einen kalten Klang. Ich habe einen Aufsatz geschrieben gegen den Sozialdarwinismus. Es geht in erster Linie gegen den klassischen Sozialdarwinismus der Engländer, aber auch der Deutschen im 19. Jahrhundert und darüber hinaus. Ich sage, deren geistige Enkelkinder sitzen heute in manchen Vorstandsetagen oder auf Ökonomielehrstühlen. Die Denkfigur, die insbesondere im angelsächsischen Kulturraum verbreitet ist, lautet: Der Wettbewerb sortiert die Schwachen und die Schlechten aus. Übrig bleiben die Besten. Die zeugen sich fort, über Ideen, Vermögen, Eliten. Aber auch biologisch. Und diesen Prozess, der der biologischen Evolution, also dem Darwinschen Selektionsprinzip, gleicht, nennt man den technischen und zivilisatorischen Fortschritt. Auch zwischen Firmen gibt es Selektion, Kannibalismus, gnadenlosen Wettbewerb. Ich sehe hier viel Kälte. Und ich bin besorgt darüber, dass sich dieser ökonomische Darwinismus in alle Zivilisationen und Kulturen der Welt hineinfrisst.
Die Leute, die die Entscheidungen treffen, lösen sich immer weiter von ihren ethisch geprägten nationalen Mustern. Sie sind ungebundener, freier in ihren Entscheidungen und können weniger kontrolliert werden...
von Weizsäcker: Freiheit von Ethik, Freiheit von kulturellen Bindungen - was ist das für eine trostlose Freiheit? Eine Form, die kulturelle Bindung wieder zu betonen, ist die "Glokalisierung". Das heißt also, indem man die Globalisierung erlebt und mitmacht, gibt es gleichzeitig wieder eine Rückbesinnung auf die Provinz. Und das ist ein Angebot für das verunsicherte Gemüt. Laptop und Lederhosen lautet Edmund Stoibers Slogan. Die Lederhose steht für das Heimelige. Da kann es dann zum Image gehören, dass ein bayerischer Topmanager einen bayerischen Tonfall hat. Diese Bindung an eine lokale Kultur ist inzwischen längst ein Verkaufsargument geworden.
Also, mit der Unsicherheit wächst das Bedürfnis nach Sicherheit?
von Weizsäcker: Genau. Aber ob der Rekurs auf die Lederhose echte Sicherheit verschafft, ist eine ganz andere Frage. Ich will noch ein anderes Phänomen nennen. In dem Buch meines Bruders steht, dass die Globalisierung eine Prämie für Geschwindigkeit schafft. Der Schnellste gewinnt. Und da sage ich nun als in den Denkfiguren der Kybernetik geschulter Biologe: Das ist eine systemsprengende Gefahr, wenn der Schnellste gewinnt. Als evolutionstheoretisch geschulter Biologe sage ich, die Evolution von Organismen auf der Welt enthält haufenweise Brandmauern zum Bewahren von Langsamen. Diese werden vom ökonomischen Sozialdarwinismus permanent ignoriert. Deswegen der Ruf nach Stabilisatoren und Langsamkeitsprämien. Es hat in den letzten Jahren zwei berühmt gewordene Fälle gegeben, wo der Schnellste, aber nicht der Beste gewonnen hat. Das eine war Betamax gegen VHS bei den Videosystemen und Apple gegen Microsoft. Microsoft war schneller und mächtiger.
Die Globalisierung ist nicht nur die Globalisierung von Wirtschaft. Da hängen vor allem Menschen dran, die ständig umziehen. Was heißt das für das Kulturerbe von einzelnen Regionen, Ländern und Nationen? Gibt es am Ende nur noch eine gleichförmige Mc World?
von Weizsäcker: Das ist ganz eindeutig eine Gefahr. Aber es ist nicht das Thema der Enquete-Kommission. Bei der UNESCO redet man darüber sehr intensiv. Auch Professor Klaus Töpfer hat schon mehrfach betont, dass das Verschwinden von Sprache und auch Kulturen ein ökologisches Problem ist, dass damit auch Biodiversität den Bach runter geht. Dass Hirse oder Kartoffeln von bestimmten lokalen Eigenschaften nur im Rahmen einer lokalen Kultur Überlebenschancen haben und von einer McDonald's-Kultur einfach weggepustet werden.
Interview: Hans Monath, Annette Rollmann
Quelle: Das Parlament Nr. 3-4, 19.01.2001, © Das Parlament
Ernst Ulrich von Weizsäcker, geb. 1939, war von 1999 bis 2002 Vorsitzender der Enquete-Kommission "Globalisierung der Weltwirtschaft - Herausforderungen und Antworten", seit Oktober 2002 ist er Vorsitzender des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit des Deutschen Bundestages