''Ich fürchte, der Westen wird Afghanistan aufgeben''
Sie sind das neunzehnte Kind unter dreiundzwanzig Geschwistern in Ihrer Familie. Hat Sie das gelehrt, für Ihre Rechte zu kämpfen?
Fawzia Koofi: Sicherlich. Das Leben in einer großen Familie hat viel damit zu tun, sich durchzusetzen. Als junges Mädchen habe ich gelernt, Präsenz zu zeigen und mich unter den Älteren zu behaupten.
Sie kandidieren 2014 um die Präsidentschaft in Afghanistan. Lassen Sie uns für einen Moment träumen. Was würden Sie ändern, wenn Sie gewinnen?
Koofi: Wieso träumen? Ich gehe vom Möglichen aus. Zwei Bereiche sind wichtig. Zum einen will ich die Situation der Menschen verbessern. Afghanistan ist kein Land, das chronisch arm bleiben muss. Wir verfügen über eine Menge Reichtum durch unsere Rohstoffe, etwas, was die gegenwärtige Regierung bisher noch nicht genutzt hat. Bislang hängen wir vor allem von ausländischer Hilfe ab. Wir brauchen aber einen Übergang zu eigenständigen Industrien. Das wiederum muss begleitet werden von einem Prozess, in dem die Politiker der Bevölkerung Rechenschaft schuldig sind sowie von einer funktionierenden Justiz.
Also weniger Korruption. Wie wollen Sie das erreichen?
Koofi: Wir müssen als Politiker selbst Vorbilder sein im Kampf gegen Korruption. Wir müssen es vorleben. Das fängt in unseren eigenen Familien an. Wenn wir das der Bevölkerung glaubwürdig vermitteln, hat das auch Folgen für das politische Leben. Nehmen Sie die Regierungsebene. Da ist in den letzten Jahren niemand verurteilt worden, obwohl wir zahlreiche Fälle von Korruption dort kennen. Das muss sich ändern.
Was wollen Sie für die Frauen in Afghanistan bewirken?
Koofi: Das ist mein Anliegen. Frauen machen 55 Prozent der afghanischen Bevölkerung aus. Sie entscheiden die nächste Wahl. Aber sie sind auch der vergessene Teil der Bevölkerung. 2004 wurde Karsai von 44 Prozent der Frauen gewählt. Er verdankt ihnen seine Wahl. Aber er hat sie gleich nach der Wahl wieder vergessen.
Heute sind die Rechte von Frauen zu einer "Kampfgröße" im Krieg geworden, zwischen den Taliban auf der einen, der Regierung und den Geberländern auf der anderen Seite. Die Taliban kämpfen, um zunichte zu machen, was die andere Seite versucht, als Erfolg auf diesem Gebiet darzustellen. Unlängst hat es grausame Verletzungen von Frauenrechten gegeben. In einem Fall wurde eine Frau in Gegenwart einer Menge öffentlich hingerichtet. Das Gebiet kontrollierten die Taliban. Es wurde geklatscht dabei. So etwas darf kein Platz haben in unserer Kultur.
Wie wollen Sie als Politikerin Tradition und überkommenes Denken zurückdrängen?
Koofi: Es braucht viel Zeit, die negativen Seiten gesellschaftlicher Traditionen zu verändern. Über Nacht wird das nicht geschehen.
2014 verlässt das internationale Militär Afghanistan. Sind Sie damit einverstanden?
Koofi: Nein. Ich befürchte, dass der Westen Afghanistan aufgeben könnte. Die internationale Gemeinschaft ist im Namen von Sicherheit und Stabilität angetreten. Zwölf Jahre später sehen die Menschen davon nur wenig. Meine Heimatprovinz Badakhshan war für gewöhnlich ein ruhiger und sicherer Ort. Jetzt verschlechtert sich die Lage zusehends. Ein zu früher Abzug macht alles nur noch schlimmer und gefährdet die noch schwachen Institutionen. Ich hoffe, es kommt nicht zu einem worst-case-Szenario, so dass keine Wahl stattfinden kann.
Was bedeutet das Abzugsdatum 2014 wirtschaftlich für Afghanistan?
Koofi: Wir steuern auf eine wirtschaftliche Krise in Afganistan zu. Bisher sorgt das Geld aus der Militär- und Entwicklungshilfe für eine Anzahl von Arbeitsplätzen.
Aber jetzt werden viele Menschen ihre Arbeit verlieren. Ohne klare Alternative besteht die Gefahr, dass einige dieser Menschen in Kriminalität oder Extremismus abrutschen könnten. Unter meinen Bekannten gibt es junge studierte Menschen, die zu mir kommen und mich nach Arbeit fragen. Nicht jedem kann ich eine Empfehlung geben. Einige haben sich später bei den Taliban wiedergefunden.
Zuletzt hat es mehr tödliche Übergriffe von afghanischen Soldaten auf internationales Militär gegeben. Welche Erklärung haben Sie dafür, dass Afghanen ihre internationalen Mitarbeiter angreifen?
Koofi: Einerseits geht es in einigen dieser Fälle um persönliche Streitigkeiten zwischen Soldaten beider Seiten, bisweilen in Verbindung mit einem Mangel an kultureller Sensibilität. Ein besseres Training für internationale Truppen, bevor sie nach Afghanistan kommen, wäre gewiss hilfreich. Andererseits reagieren afghanische Soldaten oft aggressiv, was auch mit fehlender Bildung zusammenhängt.
Es sollte z.B. klar sein, wie man mit einem Text des Koran umgeht. Auch sollte man afghanische Frauen in der Öffentlichkeit nicht einfach fotografieren. Es gilt eigentlich das Gleiche, was wir in jeder anderen Gesellschaft auch erwarten würden. Aber es gibt manche Personen bei den ausländischen Truppen, die sich offenbar für überlegen halten. Die Afghanen erscheinen ihn als nobodies. Mehr Respekt könnte daher helfen, solche tödlichen Zwischenfälle zu vermeiden.
Es hat eine Welle der Gewalt nach dem jüngsten Anti-Muhammad-Film gegeben. Wo stehen Sie zwischen Meinungsfreiheit und religiöser Sensibilität?
Koofi: Wir leben in einem global village. Wir alle haben Rechte und Pflichten. Die Ausübung von Meinungsfreiheit verlangt einen verantwortlichen Umgang - ohne die Absicht, Gewalt zu provozieren. Umgekehrt verurteile ich die Gewaltausbrüche, die es gegeben hat. Wir sollten diesen Gruppen keinen Anlass für solche Taten liefern.
Das Interview führte Martin Gerner.
© Qantara.de 2012
Die afghanische Frauenaktivistin Fawzia Koofi stammt aus der nordöstlichen Provinz Badakhshan, wo sich mehrere Jahre auch ein deutsches Wiederaufbauteam eingerichtet hatte, das jetzt abzieht. Sie war als Englisch-Lehrerin und als Unicef-Mitarbeiterin tätig. Seit 2005 sitzt Koofi im afghanischen Parlament und ist dort u.a. tätig im Ausschuss für Frauen-Angelegenheiten.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de