Marokkos Kunstszene zwischen den Stühlen
Leila Alaoui, Marokkanisch oder Französisch – was überwiegt bei Ihnen?
Leila Alaoui: Ich bin in Marokko als französische Marokkanerin aufgewachsen - wurde aber irgendwie immer als Französin in Marokko und Marokkanerin in Frankreich wahrgenommen. Auch wenn ich mich selbst als Marokkanerin sehe, hatte ich nie ein besonders starkes Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Zwar würde ich sagen, dass sich meine kosmopolitische Identität in New York geformt und später auch durch meine Arbeit als "normadic artist" durch die Beschäftigung mit kultureller Vielfältigkeit und Identitätsfragen intensiviert hat, aber meiner mediterranen Identität fühle ich mich einfach sehr verbunden. Ich verbringe meine Zeit zwischen Marokko, Libanon und Frankreich, und fühle mich eigentlich in allen drei Ländern Zuhause - wichtig ist nur, dass ich die Möglichkeit habe, mobil zu sein.
Nicht wenige Marokkaner reagieren grundsätzlich distanziert und abweisend, wenn man sie fotografiert. Womit hängt das Ihrer Ansicht nach zusammen?
Alaoui: Aufgrund vieler negativer Erfahrungen hat Marokko eine sehr spezifische Beziehung zu Fotografen bzw. Menschen, die fotografieren. Die Marokkaner haben das Gefühl, dass ihre Kultur benutzt wird – insbesondere was einheimische Kleidung und Architektur angeht – und das die Fotografen versuchen, ihre eigene Fantasie von einer exotischen "anderen" Welt daraus entstehen zu lassen. Das ist einer der Gründe. Aber auch Aberglaube und Zauberei spielen eine Rolle. Es ist zum Beispiel Teil des kollektiven Bewusstseins, dass man immer noch glaubt, Kameras würden die Menschen ihrer Seele berauben.
Sie reisen häufig zwischen dem Libanon und Marokko. Wo liegen Ihrer Meinung nach die Gemeinsamkeiten, aber auch Kontraste zwischen der Kunstszene Beiruts und der in Marrakesch?
Alaoui: Beide Städte verbindet die wohl derzeit lebendigste Kunstszene in der Region des Mittleren Ostens und in Nordafrika. Während sich Marrakesch jetzt mit seiner Biennale für Zeitgenössische Kunst und dem Museum für Fotografie und Visuelle Kunst selbstbewusst auf der Karte positioniert hat, glänzt Beirut meiner Meinung nach durch starke zeitgenössische Institutionen wie das Beirut Art Center und dem Ashkal Altan. Hinzukommen sehr professionelle, internationale Kunstgalerien wie Sfeir-Semler, das Art Factum oder die Galerie Tanite. Beirut sticht außerdem durch seine Vielzahl an alternativen Kreativstätten hervor und seiner stetig wachsenden, lokalen aber auch sehr internationalen Kunst-Community, wie sie sich jetzt auch langsam in Marrakech entwickelt. Neue Galerien wie The Voice Gallery oder die von Künstlern ins Leben gerufenen Orte wie das Al-Maquam oder das Riad 18 bereichern die Kunstszene in Marrakesch enorm.
Die meisten bekannten zeitgenössischen arabischen Künstler stammen aus der Diaspora, arbeiten und leben in Europa oder den Staaten. Worin liegen Ihrer Meinung nach die wesentlichen Unterschiede zwischen marokkanischen Künstlern, die über Grenzen hinweg tätig sind und jenen, die an Marokko gebunden sind?
Alaoui: Wir konnten erst kürzlich miterleben, dass die Kunstszene in Marokko noch immer einer sehr starken Zensur ausgesetzt ist. Die Debatte um Nabel Ayouchs Film "Much loved", der sich mit dem Thema Prostitution beschäftigt, hat das sehr deutlich gezeigt. Mit Blick auf die zeitgenössischen Künstler der Region - dem Mittleren Osten und Nordafrika - kommt recht wenig aus Marokko. Die meisten Künstler, deren Werke eine starke politische Aussage haben, stammen tatsächlich aus der marokkanischen Diaspora, etwa Mounir Fatmi oder Mohamed El Baz.
Ich kenne nicht viele marokkanische Künstler, die tatsächlich in Marokko leben und sich in den sozial-politischen Diskurs mit einbringen. Das hängt auch mit der Angst vor der Zensur zusammen. Die marokkanische Gesellschaft durchläuft einen gewaltigen Wandel. Wir sind gefangen zwischen Tradition und Moderne, der Meinungsfreiheit auf der einen Seite und der Angst vor Autoritäten auf der anderen. Mit Blick auf die anderen Staaten in der Region sind auch die Marokkaner besorgt um die Zukunft ihres Landes. Wir ziehen es vor uns ruhig zu verhalten, die Augen zu verschließen, um ganz sicher zu gehen, dass das Land sein positives Image und seinen Frieden behält.
Was das angeht, so bin ich davon überzeugt, dass das fehlende Engagement der Künstler auch eher mit Selbstzensur als mit Zensur zusammenhängt. Es fehlt an unabhängigen Kunstinstitutionen, die Künstler dabei unterstützen und dazu befähigen, Teil des gesellschaftlichen Diskurses zu werden. Das wiederum behindert den künstlerischen Prozess. Aus diesen Gründen haben viele politisch engagierte Künstler es vorgezogen, sich anderweitig zu orientieren und internationale Plattformen zu suchen.
Mir fällt auf, dass insbesondere die jüngere exil-marokkanische Generation ein zum Teil stark romantisierendes Bild Marokkos transportiert. Wie stehen Sie dazu?
Alaoui: Das Leben im Exil zieht immer die Romantisierung des Heimatlandes mit sich. In einem meiner persönlichen Projekte werde ich mich genau mit dieser Thematik beschäftigen. Ein Mix von Video-Installationen, Fotografie und Archivdokumenten soll die gegenwärtige Realität der post-kolonialen Migration nach Frankreich thematisieren. Das Projekt beleuchtet sowohl individuelle als auch kollektive Erinnerungen der ersten Generation, um im Anschluss die Problematik der nachfolgenden Generation(en) besser verstehen zu können. Die Aufmerksamkeit wird aber auch auf die Rolle gegenwärtiger Immigration gerichtet sein mit Fragen zu Identitätsgebilden- und zugehörigkeiten, insbesondere in Zeiten wachsender Angst vor dem "Fremden/Anderen" in europäischen Gesellschaften.
Wie kam es zur Entstehung und Arbeit an Ihrem jüngsten Filmprojekt "Crossings"?
Alaoui: Für eine sehr lange Zeit war Marokko lediglich ein Transitland, heute ist es jedoch Zufluchtsland für viele subsaharische Migranten, die auf der Suche nach einem besseren Leben unterwegs sind. Die Unterdrückung dieser Migranten entwickelte sich über die Jahre hinweg zu einem sehr konfliktbeladenen Thema in Marokko. Als Marokkanerin hat mich das sehr beschämt, und ich habe mich irgendwie dafür verantwortlich gefühlt, gegen den gewaltsamen Umgang mit den subsaharischen Migranten zu kämpfen, die insbesondere wegen ihres illegalen Status ihrer Menschenrechte beraubt wurden.
Als ich mich dazu entschieden hatte an diesem Projekt zu arbeiten, habe ich viele Monate als aktive Beobachterin in den migrantischen Communities, in größtenteils sehr unterprivilegierten Stadtvierteln von Rabat und Tanger, verbracht. In dieser Zeit war ich stark in die Arbeit von Aktivisten, Journalisten und Menschenrechtsorganisationen involviert, die an der Verbesserung der Situation der Migranten und Flüchtlinge in Marokko beteiligt sind. Diese Erfahrung hat mein Vorhaben einer audiovisuellen Umsetzung weiter unterstützt, durch welche persönliche Migrationsgeschichten geteilt und die bestürzende Reise gespiegelt werden sollte. Es war mein aufrichtiger Wunsch ein Projekt zu realisieren, das auf die Menschlichkeit und Würde der Migranten fokussieren sollte.
Das Gespräch führte Melanie Christina Mohr.
© Qantara.de 2015
Die 1982 in Paris geborene Leila Alaoui verbrachte ihre Kindheit und Jugend in Nordafrika. Anschließend zog sie für acht Jahre nach New York, wo sie Film- und Fotografie studierte. 2008 zog sie zurück nach Marokko. Ihre Arbeiten werden seit 2009 international ausgestellt. Zuletzt wurde auf der diesjährigen Marrakech Biennale ihr sechsminütiges Multi-Screen-Projekt "Crossings", eine Video-Installation, welche die Reise von Schwarzafrikanern beginnend von ihrer Heimat nach Marokko beschreibt.