Menschenrechtsbildung im Schatten der Diktatur
Herr Abdelmoulah, wie lange gibt es schon Menschrechtsbildung an tunesischen Schulen und wie hat sie sich entwickelt?
Najib Abdelmoulah: Menschenrechte wirken Diskriminierung entgegen und versprechen Menschen ein würdiges Leben. So gesehen gab es Menschenrechtsbildung bereits seit der Einführung des ersten Bildungsgesetzes in Tunesien im Jahr 1958. Dieses Gesetz stellte Gleichheit im Bereich der schulischen Bildung her. Im Rückblick auf dieses Gesetz lassen sich Freiheit, Würde und Gleichheit in vielen Artikeln entdecken. Das Gesetz von 1991 stellt ein wichtiges Moment in der Entwicklung der Menschenrechtsbildung dar, es führt die allgemeine Schulpflicht ein. Hinzu kam dann auch "Civic Education" als unabhängiges Fach, das seitdem von Fachlehrern mit einer Ausbildung in Jura oder Philosophie unterrichtet wird.
An welchen Vorbildern haben sich Lehrplanentwickler und Schulbuchautoren orientiert?
Abdelmoulah: Für schulische Bildung sind in Tunesien unterschiedliche Inhalte maßgeblich, auch solche, die auf dem arabisch-islamischen Erbe basieren. Aber auch aus diesem Erbe werden die Texte der rationalen Philosophie und der Aufklärung ausgewählt. Sie haben für die Entwicklung des universellen Ideenerbes und der europäischen Ideengeschichte eine wichtige Rolle gespielt. Die zweite Komponente ist die westliche Moderne. So findet man in den Lehrplänen Inhalte aus der italienischen Renaissance und aus der europäischen Aufklärung. Seit der Gründung der Sadiqi-Schule durch Khair ad-Din Pascha (1820-1889) vor der tunesischen Unabhängigkeit hat die tunesische Schule den Anspruch, aufgeklärt zu sein. Die Absolventen der Sadiqi-Schule haben eine wichtige Rolle in der Befreiungsbewegung und beim Aufbau des Staates nach der Unabhängigkeit gespielt.
In den Schulbüchern kommen unterschiedliche Referenzen vor: europäische und arabische, seltener Bezüge auf die Regierungspartei Ben Alis oder auf den Islam – kann man hier nach Ihrer Meinung von Strategien sprechen?
Abdelmoulah: Menschenrechte werden in tunesischen Büchern sowohl anhand von europäischen als auch von arabischen Quellen erklärt und betonen dabei die Modernitätstendenz aus den Beiträgen beider Kulturen. Die Referenzen auf den Islam kommen nur in den Büchern für islamische Erziehung vor. Die Partei Ben Alis war keine Partei der Ideen und Werte, sondern eine Partei, die auf persönlichen Netzwerken basierte. Die Schulbuchautoren haben daher davon abgesehen, die Regierungspartei besonders zu erwähnen. Es gab also keine Konkurrenz der Ideen.
Nach unseren Beobachtungen gibt es einen großen Widerspruch zwischen den Idealen der Menschenrechtsbildung in Schulbüchern der "Civic Education" und der politischen Realität des alten Regimes. Wie kann man das erklären und wie sind Bildungsplaner damit umgegangen?
Abdelmoulah: Widersprüche zwischen den ideellen Werten in den Schulbüchern und dem realen Leben sind der Normalfall. Das Regime Ben Ali hat allerdings das Verständnis der Rechte mit seiner Korruption und Repression überdeckt. Die Lehrpläne waren jedoch nicht in die ideologische Instrumentalisierung einbezogen. Das Bildungsgesetz zeugt von Respekt vor dem Menschen, seiner Identität, Würde, Freiheit und nationaler und regionaler Zugehörigkeit bei gleichzeitiger Öffnung der Menschen gegenüber der universellen Dimension. Das Bildungsgesetz ist progressiv und außerhalb der herrschenden Ideologie gestaltet.
Gibt es nach Ihrer Wahrnehmung Zusammenhänge zwischen schulischer Menschenrechtsbildung und dem Sturz des Regimes?
Abdelmoulah: Der Zusammenhang zwischen der Menschenrechtsbildung und dem Sturz von Ben Alis Regime ist indirekt. Die Menschenrechtsbildung methodisch darauf, Schüler dazu zu befähigen, die Dinge kritisch aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Sie lernen damit auch die Verfälschungen des Regimes zu enthüllen – Verfälschungen, durch die versucht worden ist, das Regime auf der Seite des Rechts zu positionieren und dabei die Menschenrechtsverletzungen zu kaschieren. Als die Diktatur unerträglich geworden war, kam es zu einer starken Reaktion von allen Gesellschaftsmitgliedern.
Inwiefern ist Tunesien ein besonderer Fall unter den arabischen Ländern?
Abdelmoulah: Im Vergleich zu anderen arabischen Ländern zeichnet sich Tunesien dadurch aus, dass das Volk nicht von konfessionellen, ethnischen und religiösen Spaltungen beherrscht ist. Der verbreitete Glaube ist der sunnitische Islam. Außerdem wurde der Staat seit seiner Unabhängigkeit (1956) auf der Basis moderner Werte errichtet; Werte, die die Frau mittels des Personenstandsrechts befreit haben. Ferner hat die Verbreitung der Bildung entscheidend zur Veränderung der Mentalität beigetragen. Allerdings hat die Diktatur Ben Alis verhindert, dass Bildung und Befreiung der Frau wirklich Fürchte tragen konnten.
Welche Zukunftsperspektiven sehen Sie für Menschenrechtsbildung in Tunesien und dann auch im arabischen Raum; welche Barrieren sind zu überwinden?
Abdelmoulah: Was am 14. Januar in Tunesien geschah, ist beeindruckend, weil die Mauer der Angst, die die Menschen daran gehindert hat, die Diktatur zu bekämpfen, zerschlagen worden ist. Schülerinnen und Schüler folgten einerseits dem Unterricht über Meinungsfreiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, Obrigkeit der Verfassung und Unabhängigkeit der Justiz; andererseits bemerkten sie reale Ungerechtigkeiten. Diese Situation hat zu einem Rückgang des öffentlichen Engagements von Jugendlichen geführt.
Heutzutage hat sich die Situation geändert. Die Menschen fühlen, dass Tunesien ihr Land ist. Die rechtlichen Normen haben an Glaubwürdigkeit gewonnen. Mit jeder neuen Änderung sind freilich Schwierigkeiten verbunden. Es wird nicht mehr zwischen dem Recht auf Freiheit und Freiheit in einem alltäglichen Sinn unterschieden. Die Freiheit im absoluten Sinne kann zu Anarchie und Verletzung der Rechte anderer führen. Daher stellt sich heute die Frage, wie das zivilrechtliche Bewusstsein weiterentwickelt werden kann.
Auf den tunesischen Bürger warten wichtige Aufgaben: Die Bildung einer Konstituierenden Nationalen Versammlung und die Durchführung einer demokratischen Wahl. Dies verlangt eine Kultur des bewussten Engagements für die Öffentlichkeit, des Praktizierens von Rechten ohne Verfälschung und die Gewöhnung an Kontrollmechanismen, die der Bewahrung gemeinschaftlicher Güter dienen.
Interview: Susanne Kröhnert-Othman und Sarhan Dhouib
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de