Stimme des Gewissens

Die 1988 gegründete Organisation "Rabbis For Human Rights" engagiert sich für den Dialog zwischen Juden und Muslimen sowie für die Rechte der Palästinenser. Andreas Baum hat sich mit ihrem Vorsitzenden Rabbi Arik Ascherman im Jerusalemer Vorort Talpiot unterhalten.

Von Andreas Baum

Wenn Sie mit Ihren Freiwilligen, auch mit anderen Rabbinern, in den besetzten Gebieten Demonstrationen oder Sitzblockaden abhalten – zum Beispiel, um Palästinenser bei der Olivenernte gegen Übergriffe von Siedlern zu schützen, dann rechtfertigen Sie diesen zivilen Ungehorsam auch religiös. Wie genau funktioniert das?

Arik Ascherman: Das Judentum hat einen wundervollen Schatz an überlieferter Gesetzgebung – die "Halacha" – und eine Tradition, die uns lehrt, wie wir unsere Mitmenschen behandeln sollten. Heute würden wir diese Regeln Menschenrechte nennen. Nun gibt es einige unter uns, die glauben, dass diese Regeln nur auf Juden anzuwenden seien. Wenn wir aber im ersten Buch der Thora, in der Genesis, den Vers 27 lesen, dann heißt es dort: Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bild. Wenn wir das ernst nehmen, heißt das, dass wir Gottes Antlitz in allen Menschen erkennen, dass Menschenrechte für alle gelten, für Juden wie für Nichtjuden. Das ist das Fundament unserer Organisation.

Aber auch die national-religiösen Siedler im Westjordanland rechtfertigen ihr Recht auf das Land durch die Bibel.

Ascherman: Ich wünschte, ich könnte denen so einfach nachweisen, dass sie im Unrecht sind. Leider kann ich das nicht. Denn eines der sichtbaren Zeichen des Bundes zwischen Gott und dem jüdischen Volk ist das Land Israel.

Rabbi Asherman beim gemeinsamen Gebet mit Juden und Muslimen; Foto: AP
"Nicht alle Orthodoxen sind einverstanden mit dem symbiotischen Verhältnis, das die extreme Rechte gern mit dem religiösen Judentum eingehen würde": Rabbi Arik Asherman (Mitte) und zwei weitere Rabbis bei einem gemeinsamen Gebet mit palästinensischen Muslimen in der Westbank.

​​Aber wenn wir die Bibel ernst nehmen, dann müssen wir erkennen, dass derselbe Gott, der uns das Land gegeben hat, auch sagt: 'Ob und wie viel ihr davon bewohnen könnt, hängt von eurem Verhalten ab'.

Aber ist das nicht ein Paradox?

Ascherman: Allerdings. So sehr ich mich als Rabbiner, als Israeli, als Zionist mit dem ganzen Land verbunden fühle, so sehr muss ich verstehen, dass das Bestreben, es ganz und allein zu besitzen, dazu führen wird, dass wir es nicht oder nur zu einem kleinen Teil bewohnen können. Es kommt darauf an, dass wir moralisch handeln.

Die Frage ist nur, was das in der Praxis bedeutet. Die Nationalreligiösen halten sich auch für moralisch.

Ascherman: Wissen Sie, Sie müssen ja nicht auf mich hören, auf Rabbi Arik Ascherman. Hören Sie doch lieber auf Rabbi Ovadja Josef, das spirituelle Oberhaupt der Schas-Partei der religiösen sephardischen Juden.

Der hat noch im vorvergangenen Jahr für Aufregung gesorgt, weil er behauptet hatte, alle Nichtjuden seien auf der Welt, um den Juden zu dienen, und die Palästinenser möge die Pest befallen.

Ascherman: Mag sein. Er hat aber an anderer Stelle auch gesagt: So heilig das Land Israel auch ist, das menschliche Leben ist heiliger! Wenn wir also zu wählen haben zwischen Blutvergießen und einem territorialen Kompromiss, gibt es keinen Zweifel: Wir müssen das Land teilen.

Wie reagieren denn Polizei und Armee auf Sie? Wenn sie auf den Demonstrationen Rabbiner auf sie zulaufen sehen?

Ascherman: Ich erinnere mich an eine Demo gegen den Sperrzaun. Da rannte ein Polizeioffizier mit seinem Schlagstock auf uns zu und prügelte auf die jüngeren Demonstranten ein, die so typisch aussahen, mit langen Haaren, Rucksäcken, usw. Als er zu mir kam, rief er, fast verzweifelt: "Ich kann das nicht. Ich kann einen Mann mit einer Kippa und etwas Grau in seinem Bart nicht schlagen." Oft glaubt man aber auch, ich sei ein Rädelsführer, und deshalb widmet man mir besonders viel Aufmerksamkeit.

Und wie reagieren die Siedler? Viele von denen sind ja religiös.

Ascherman: Vor vielen Jahren hat ein Siedler einmal zu mir gesagt: Die Palästinenser können wir verstehen. Aber dich verstehen wir nicht. Du bist ein Verräter.

Und die Armee?

Ascherman: Die Armee muss sich mehr und mehr zähneknirschend an die Urteile des Obersten Gerichtshofes in Israel halten, die wir zum Teil erwirkt haben, und die besagen, dass es ihre Aufgabe ist, zu gewährleisten, dass die Palästinenser jede einzelne ihrer Oliven ernten dürfen. Von denen bekomme ich dann zu hören: 'Okay, wir beschützen die Bauern. Aber dich wollen wir da nicht sehen. Weil du für die Siedler ein rotes Tuch bist!'

Und die religiösen Juden?

Ascherman: Ich bin immer wieder überrascht, wie bekannt unsere Organisation in der jüdisch-orthodoxen Welt ist. Weil eben nicht alle Orthodoxen einverstanden sind mit dem symbiotischen Verhältnis, das die extreme Rechte gern mit dem religiösen Judentum eingehen würde. Andere Orthodoxe missverstehen uns und regen sich über uns auf – aber sie kennen uns.

Werden Sie persönlich bedroht?

Ascherman: Interessanterweise habe ich in den neunziger Jahren mehr Morddrohungen bekommen. Seit dem Ausbruch der zweiten Intifada im Jahr 2000 wurde das weniger, weil die Leute andere Sorgen hatten. Aber es gibt heute wieder eine wachsende Feindseligkeit gegen die israelische Zivilgesellschaft und die Menschenrechtsorganisationen.

Demonstration der 'Rabbis for Human Rights'; Foto: AP
Kerzen für den Frieden: Houla Hannoun (r.), palästinensische Friedensaktivistin, mit anderen Demonstranten auf einer "Rabbis for Human Rights"-Aktion für die Aussöhnung zwischen Juden und Muslimen.

​​Beispielsweise Hagit Ofran von "Peace Now" – zweimal in den vergangenen Monaten wurde ihr Haus mit Mordaufrufen beschmiert. Es ist traurig, aber ich fürchte, dass es zu Gewalt gegen Menschenrechtler in Israel kommen wird, auch wenn es uns, die "Rabbis For Human Rights", wahrscheinlich nicht treffen wird.

Wo ziehen Sie selbst die Linie zwischen Gewalt und Gewaltfreiheit?

Ascherman: Wenn wir zur Olivenernte gehen, sage ich unseren Freiwilligen: Unsere Selbstverpflichtung zur Gewaltfreiheit schließt verbale Gewalt mit ein. Wenn du also wütend wirst auf die Siedler oder die Soldaten, dann schreie sie nicht an, beschimpfe sie nicht. Wenn wir unsere Arbeit damit erklären, dass wir das Antlitz Gottes in allen Menschen sehen, dann gilt das auch für diejenigen, die anderer Meinung sind als wir.

Unter denen, die nicht mit Ihnen einer Meinung sind, haben sich einige auf eine für Außenstehende schwer verständliche Weise radikalisiert. Ich spreche von der "Price Tag Movement" – junge Siedler, die palästinensischen Besitz zerstören, sogar Moscheen schänden, immer wenn Siedlungsaußenposten geräumt werden.

Ascherman: Wie gesagt: Wer Nicht-Juden nicht als gleichwertige Menschen ansieht, der nimmt sich so etwas heraus. Wobei ich ihnen schon abnehme, dass sie wirklich Angst haben. Für die Siedler bedeutet der Friedensprozess, dass sie am Ende ihr Zuhause, ihr Land verlieren. Allerdings ist "Price Tagging" auch ein Akt der Verzweiflung. Denn große Massen von Siedlern lassen sich nicht mehr mobilisieren. Es reicht nur noch für heimliche Aktionen in Nacht und Nebel.

Es gibt die Theorie, dass diese sehr radikalen Gruppen nicht ein ausschließlich israelisches Problem darstellen. Viele der extrem rechten Aktivisten sind erst vor wenigen Jahren nach Israel eingewandert, viele von ihnen aus den Vereinigten Staaten. Liegen die Gründe für ihre Radikalisierung vielleicht eher in ihren ursprünglichen Heimatländern?

Ascherman: Ich wünschte, es wäre so. Leider sind auch sehr viele in Israel geborene Israelis an den illegalen "Price Tag"-Aktionen beteiligt. Allerdings finden Sie eine überproportionale Zahl von in Amerika geborenen Israelis, sowohl in den national-religiösen, radikalen Gruppen, als auch bei uns, den Menschenrechtsaktivisten.

Ein Kind reitet auf einem Esel an jüdischen Siedlungen in Ostjerusalem vorbei; Foto: AP
"Für die Siedler bedeutet der Friedensprozess, dass sie am Ende ihr Zuhause, ihr Land verlieren", sagt Rabbi Asherman. Er sieht in dem teilweise radikalen Vorgehen einiger Siedlern gegen Palästinenser vor allem einen Akt der Verzweiflung.

​​Viele jüdische Einwanderer aus Europa, Asien und Nordafrika fliehen vor extremem Antisemitismus oder vor ökonomischen Schwierigkeiten. Aber wer aus den Vereinigten Staaten kommt, wo es diesen brutalen Antisemitismus nicht gibt, und wo auch die wirtschaftliche Lage besser ist als in Israel, der muss spirituell oder ideologisch hoch motiviert sein. Welcher Ideologie du auch immer anhängst, es ist wahrscheinlicher, dass man ein Aktivist wird.

Versuchen Sie, auch ihre palästinensischen Partner davon zu überzeugen, auf Gewalt zu verzichten?

Ascherman: Ich halte den Palästinensern keine Vorträge über Gewaltfreiheit. Ich weiß nicht, wie oft wir palästinensischen Familien, deren Häuser von der Armee zerstört wurden, geholfen haben, sie wieder aufzubauen. Es ist immer das gleiche: Wie verhindern wir, dass der zehnjährige Junge, dessen Zuhause vor seinen Augen abgerissen wird, dessen Eltern erniedrigt werden, eines Tages hingeht und sagt: 'Ich werde Terrorist'? Nur, indem wir ihm zeigen, dass nicht alle Israelis mit Gewehren und Bulldozern anrücken, sondern dass es auch welche gibt, die helfen, das Haus wieder aufzubauen.

Bei Kindern mag das hilfreich sein. Aber ist es nicht auch wichtig, auf diejenigen einzuwirken, die sich bereits für die Gewalt entschieden haben?

Ascherman: Vor einigen Jahren halfen wir einer palästinensischen Familie bei der Olivenernte. Einer der Söhne der Familie war ein Mitglied der Präsidentengarde von Jassir Arafat – ein bewaffneter, militanter Kämpfer. Der kam auf mich zu und fragte mich: 'Was tust Du hier? Ein israelischer Rabbiner? Das macht keinen Sinn!' Da habe ich ihm von der jüdischen Tradition von Frieden, Menschenrechten und Gerechtigkeit erzählt. Ich bin nicht naiv: Ich weiß, dass die Chance, dass so jemand wie diese Person auch in Terroranschläge verwickelt war, groß ist. Doch die Chance ist ebenso groß, dass er nach dieser Erfahrung gemeinsam mit einem israelischen Rabbiner die Olivenbäume seiner Familie zu ernten, einen friedlichen Weg einschlägt.

Interview: Andreas Baum

© Qantara.de 2012

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de