Eine andere Art von Kulturschock
In Ihrem Roman "Schwester und Bruder", der zum großen Teil in Indien spielt, schreiben Sie, dass Sie sich in Indien 'dekontextualisiert' fühlten. In Ihren Tagebüchern, die Sie hier in Damaskus verfasst haben, heißt es: Vielleicht bietet Syrien nicht 'Dekontextualisierung', sondern 'Kontextualisierung'. Was meinen Sie damit?
Ulla Lenze: Das bezog sich auf das erste Gefühl während der ersten zwei Tage. Man hat mir - das war natürlich gut gemeint - sehr viele Vorschläge gemacht, was ich machen kann, was ich mir ansehen soll und mich gefragt, was mich interessiert. Es kam mir so vor, als wäre alles schon fertig, und jetzt laufe ich durch diese Stadt wie durch ein Museum. Meine Art des Reisens aber ist ganz anders. Natürlich bereite ich mich vor, ich lese über die Geschichte des Landes, über die politische Lage...
Bedeutet es, dass Sie sich weniger fremd fühlen, als Sie erwartet haben?
Lenze: Das ist noch ein anderer Aspekt. Ich möchte mich überraschen lassen, wenn ich reise. Und wenn ich zu viel weiß, dann ist mein Blick eingeengt. Ich habe diese ganzen letzten vier Wochen gar nicht als 'Kontextualisierung' empfunden, sondern genau im Gegenteil. Ich gebrauche das Wort im ironischen Sinn, ich mache mich da über mich selbst lustig. Ich habe mich auch gefragt, ob es eigentlich stimmt und bin viel selbstkritischer geworden. Es ist natürlich wahr: Wenn ich mich in die Fremde begebe, werde ich in Frage gestellt, und das erfahre ich hier auch sehr stark. Ich erlebe hier tatsächlich einen Kulturschock, aber in anderer Hinsicht: Ich bin schockiert über die eigene Kultur, aus der ich komme.
Können Sie trotz der Vorbereitung mit offenen Augen durch die Straßen laufen, spontan und ohne ein Programm zu absolvieren?
Lenze: Ja, denn es ist ja auch ein besonderer Besuch, ich bin hier, um zu schreiben. Und das Schreiben braucht ganz viel Raum. Und was ich für das Schreiben interessant finde, ist nicht das, was ich als Tourist interessant finde. Ich schaue mir auch Ausstellungen an oder gehe in Konzerte, aber für das Schreiben ist es uninteressant. Das Schreiben lebt von etwas ganz anderem, eher von etwas, was immer daneben liegt.
Denken Sie, während Sie durch die Stadt laufen, immer: 'Ich muss heute noch meine Tagebuch schreiben'?
Lenze: So direkt nicht, aber ich gebe zu, dass das ständig in mir arbeitet. Ich habe – zumindest unbewusst – immer eine Spur aufgenommen und überlege mir nach spätestens drei Tagen, was ich als nächstes mache.
Gibt es auch einen Druck von außen? Sowohl den Druck, schreiben zu müssen also auch einen Konkurrenzdruck mit den anderen Stadtschreibern, deren Texte ja zum Teil schon im Internet zu lesen sind?
Lenze: Bevor ich hierhin kam, hatte ich tatsächlich so ein Gefühl. Mir wurde plötzlich klar, dass ich mich in eine Konkurrenzsituation begebe. Das Urteil kommt ja auch von außen, vom Literaturbetrieb. Das wurde mir ganz plötzlich unangenehm bewusst. Jetzt, seitdem ich hier bin, habe ich das Gefühl gar nicht mehr. Ich empfinde eigentlich eine starke Solidarität mit den anderen Stadtschreibern. Ich merke, wir sind alle so verschieden, da entsteht keine Konkurrenz. Jeder hat seinen eigenen Blick auf die Dinge und seine eigene Art, das umzuarbeiten, in das Medium der Literatur zu bringen. Aber was den Druck betrifft, so glaube ich tatsächlich, dass ich nach den vier Wochen hier ganz anders hätte schreiben können, vielleicht auch Dinge präziser hätte beschreiben können.
Was ist es für ein Blick, mit dem Sie diese Gesellschaft betrachten?
Lenze: Es ist immer dieser Blick von außen. Ich beherrsche die Sprache nicht, ich fühle mich dadurch wie eine Behinderte. Aber ich glaube, selbst wenn ich die Sprache könnte, gäbe es Grenzen des Verstehens. Vielleicht denke ich manchmal, ich verstehe etwas, aber ich glaube, das ist oft eine Illusion. Man müsste schon hier aufgewachsen sein, um die Dinge von innen heraus begreifen zu können. Zum Beispiel die Sache mit dem Kopftuch, worüber ich auch einen Eintrag gemacht habe. Da merke ich, da ist eine Grenze. Oder auch die Trennung der Mann- und der Frauwelt, ich kann mir schon denken, dass es, wenn man es von innen her lebt, vielleicht eine sehr schöne Erfahrung ist, aber dieser Blick von außen sieht das anders.
Sie haben vorhin schon einmal erwähnt, dass Sie mehr geschockt waren über Ihre eigene Kultur. Sie haben auch im Tagebuch geschrieben: "Es tut sich der Verdacht auf, aus dem Land der Barbaren, der Unkultivierten zu kommen". Können Sie diesen Eindruck näher beschreiben?
Lenze: Das bezieht sich auf das, was ich täglich erlebe im Umgang mit den Menschen, wenn ich ins Restaurant gehe, wenn ich mit den Taxifahrern verhandle, wenn ich meinen Orangensaft kaufe. Da ist irgendein Element im Verhalten der Menschen, das ich bei uns vermisse, da ist eine - das sind diese Wörter, die nach Klischee riechen, aber man muss es einfach so sagen -, da ist eine Herzlichkeit, eine Unverkrampftheit, eine Unerschrockenheit, eine Hemmungslosigkeit, und das gefällt mir sehr. Ich habe gestern angefangen, mir die Frage zu stellen - es ist vielleicht eine gewagte und auch dilettantische Theorie - ob nicht vielleicht die offene Gesellschaft, die wir haben, die Kehrseite hat, dass wir auch geschlossene Herzen haben. Und hier ist es eben umgekehrt. Das ist noch eine Frage, ich weiß es nicht.
Gibt es etwas, das Sie hier gelernt haben, das Sie sozusagen mit nach Hause nehmen?
Lenze: Ganz sicher das, was ich gerade beschrieben habe. Ich frage mich zum Beispiel, warum es nicht möglich ist, wenn mich ein Ausländer nach dem Weg fragt, zuerst einmal zu sagen: 'Herzlich willkommen in Deutschland'. Es ist ganz einfach, aber eben ungewöhnlich. Aber es macht so einen so großen Unterschied, wenn man das sagt oder gesagt bekommt. Das ist der eine Aspekt. Aber es gibt noch etwas anderes, das ich jedoch nicht mitnehmen kann, nämlich diese Stadt. Ich empfinde diese Stadt als wunderschön, als eine sehr prächtige Stadt, wo die Leute sehr darauf achten, dass Dinge schön aussehen. Das beginnt bei der Bepflanzung, oder wie die Häuser eingerichtet sind oder wie die Menschen ihre Balkone gestalten. Das ist nicht protzend, das ist einfach nur schön. Und das vermisse ich auch oft in Köln, in Deutschland.
Glauben Sie, dass es unterschiedliche Wirklichkeiten und Wahrheiten gibt, die Sie durch das Reisen kennen lernen. Lernt man dadurch, den Standpunkt 'des Anderen' zu sehen, vielleicht sogar zu verstehen?
Lenze: Ich glaube schon, dass wir uns, global gesehen, in Richtung einer Gesellschaft interkultureller Subjekte hinbewegen, oder das auch müssen, dass uns das eigentlich bewusst werden sollte. Dazu gehört, dass wir anerkennen, dass es auch andere Paradigmen gibt, in denen sich andere Kulturen bewegen, dass diese nichts Bedrohliches sind, sondern dass sie ihre Gültigkeit haben simultan zu unserer. Das scheint ein Widerspruch zu sein, aber dieser Widerspruch ist auch eine Form von Wahrheit.
Warum haben Sie dem Projekt, als Stadtschreiberin hierher zu kommen zugestimmt? Was haben Sie sich davon erwartet?
Lenze: Ich beschäftige mich seit einiger Zeit mit dem Thema Islam, seit es in den Medien sehr stark präsent ist. Ich hatte auch einen neuen Roman begonnen, in dem es um die arabische Welt geht, es passte einfach genau rein. Ich kann da gut anknüpfen. Also hatte ich spontan zugesagt. Und auch weil das Reisen ein Motiv ist in meinem Leben wie auch in meinem Schreiben.
Sind denn vier Wochen ausreichend? Da kann man eine Gesellschaft doch nur von außen betrachten.
Lenze: Ja, genau, deshalb war ich auch skeptisch, ob man unter diesen Bedingungen überhaupt schreiben kann. Das können vielleicht auch nur andere beantworten, inwieweit das gelungen ist. Ich glaube, wenn ich zuhause bin, kann ich noch einmal anders schreiben, aus dem Abstand heraus. Aber ich möchte jetzt wiederholt hierher kommen, ich möchte auch Arabisch lernen, denn ich habe gemerkt, das Interessante sind die Gespräche mit den Leuten, die kein Englisch können. So zum Beispiel mit meiner Putzfrau, die eine sehr interessante Person zu sein scheint, mit der ich aber nur mit Hilfe einer Übersetzerin sprechen kann.
Ihre Tagebucheinträge werden auch ins Arabische übersetzt und ins Netz gestellt. Haben Sie beim Schreiben eine Schere im Kopf, überlegen Sie, wie Sie beiden Seiten gerecht werden können?
Lenze: Eine Einschränkung gibt es schon immer: Ich nehme natürlich Rücksichten während ich hier bin und schreibe, ich nehme Rücksichten ganz unterschiedlicher Art. Es ist ja ein Life-Tagebuch, da gebietet es die Höflichkeit, aber auch die politische Lage. Man könnte sagen, ich koche ein bisschen auf niedriger Flamme. Deshalb freue ich mich auf zuhause, wenn ich mir dann von dort aus anschauen kann, was gewesen ist. Dann werde ich auch vielleicht für ein weiteres literarisches Projekt noch einmal etwas schreiben.
Interview: Larissa Bender, Qantara.de
© Qantara.de 2004
Ulla Lenze, geboren 1973 in Mönchengladbach, erhielt den Ernst-Willner-Preis im Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb 2003, den Jürgen Ponto-Preis für das beste Romandebüt 2003 und das Rolf Dieter Brinkmann-Stipendium 2003 der Stadt Köln.
Ulla Lenze
Schwester und Bruder
2. Aufl. 2004, 224 Seiten
€ 19,90, ISBN 3832178546
Website von Ulla Lenze
Die Damaszener Tagebücher von Ulla Lenze
Leseprobe aus dem Roman "Schwester und Bruder"