"Eines Tages wird der Iran demokratisch sein"
Aus Solidarität mit den iranischen Protestierenden hat das Human Rights Film Festival Shirin Ebadi den Ehrenpreis für Demokratie und Freiheit verliehen. Die Iranierin hatte 2003 als erste muslimische Frau den Friedensnobelpreis erhalten.
In einer Videoansprache sagte Ebadi, sie wolle das Preisgeld an die Familie von Jina Mahsa Amini spenden. Der Tod der 22-jährigen Kurdin hatte die seit fünf Wochen andauernde Protestwelle ausgelöst.
Shirin Ebadi gibt Unterdrückten eine Stimme
Mit ihrer Arbeit als Menschenrechtsanwältin hat Shirin Ebadi Generationen von Aktivistinnen und Aktivisten inspiriert.
Indem sie intellektuelle Dissidentinnen und Dissidenten, Minderheiten, Frauen und Kinder verteidigt habe, habe Shirin Ebadi den "Unterdrückten eine Stimme gegeben", sagte Pegah Edalatian, die selbst iranische Wurzeln hat, in ihrer Laudatio in Berlin. Ebadis Arbeit habe "das Prinzip der Menschenrechte im Iran im Bewusstsein der Menschen gehalten", fügte sie hinzu.
Dieses fundamentale Prinzip brächte junge Iranerinnen heute dazu, für Freiheit und Gerechtigkeit zu protestieren: "Ich werde in diesen Tagen häufig gefragt, ob die Frauen eine Chance haben. Das ist die falsche Frage - sie haben das Recht!", so Edalatian weiter.
Immer mehr Tote und Inhaftierte
Doch diejenigen, die für diese Rechte kämpfen, gehen enorme Risiken ein: "Die Behörden werden niemals offiziell erheben, wie viele Menschen getötet oder inhaftiert wurden. Das heißt, wir werden nie genau wissen, wie viele Menschen verschwunden sind und was ihnen widerfahren ist", erklärt Shirin Ebadi im DW-Interview.
Laut der iranischen Human Rights Activists Agency sollen mindestens 244 Menschen, darunter 32 Kinder, durch die iranischen Sicherheitskräfte getötet worden sein. Außerdem schätzt die Menschenrechtsorganisation, dass seit Beginn der Proteste mindestens 12.500 Menschen inhaftiert wurden.
"Junge Menschen haben keine Zukunft in Islamischer Republik"
Bei all den Risiken, mit denen die Frauen konfrontiert werden, stellt sich die Frage, warum sie dennoch auf die Straße gehen und öffentlich ihre Kopfbedeckungen abnehmen. Shirin Ebadi erklärt: "Die junge Generation ist viel besser informiert als die Generation davor, und sie weiß, dass sie keine Zukunft haben wird, sollte die Islamische Republik fortbestehen. Wir haben gerade eine große Anzahl an gut gebildeten jungen Leuten, aber 40 Prozent von ihnen finden keine Arbeit, und diejenigen, die Arbeit finden, verdienen nicht genug, um von zu Hause wegzugehen und sich ein Leben aufzubauen." Vor diesem Hintergrund sei "klar, dass diese jungen Menschen auf die Straße gehen und protestieren."
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Regierung verbreitet Lügen
Ebadi äußerte sich auch zum kürzlichen Brand im Ewin-Gefängnis. Die Behauptung des Staates, die Gefangenen hätten das Feuer in der Schneiderei selbst gelegt, könne anhand der Arbeitszeiten der Gefangenen leicht widerlegt werden. "Alles, was die Regierung bis jetzt gesagt hat, waren nur Lügen", so Ebadi.
Das Teheraner Gefängnis ist berühmt dafür, Generationen von Regimekritikerinnen und -kritikern festzuhalten. Die preisgekrönten Filmemacher Jafar Panahi und Mohammad Rasoulof zählen zu den berühmtesten Insassen der Haftanstalt. Panahis Frau, Tahira Saeedi, bestätigte in einem Interview mit Radio Farda, dass beide am Leben seien. Für ihren Mann seien es aber die "schlimmsten Stunden seines Lebens" gewesen.
"Until We Are Free" - Ebadis Kampf im Film
Shirin Ebadis eigene Geschichte ist nun in dem Film "Shirin Ebadi: Until We Are Free" (Shirin Ebadi: Bis wir frei sind) zu sehen. Er basiert auf ihren eigenen Memoiren und feierte beim diesjährigen Human Rights Film Festival (13.-23.10.2022) Premiere.
Ebadi wurde 1947 in Hamadan, im Westen Irans, geboren. Sie war eine der ersten Richterinnen des Landes. Nach der Islamischen Revolution von 1979 wurde sie aus ihrem Amt entlassen und arbeitete einige Jahre als Sekretärin. Im Vorruhestand wurde ihr klar, dass sie mehr gegen die Ungerechtigkeiten des Regimes der Islamischen Republik tun müsste.
Sie kehrte schließlich zurück in ihren Job, übernahm pro-bono-Fälle und kämpfte für die Rechte von Kindern und Frauen. Auch intellektuelle Dissidentinnen und Dissidenten, die gefoltert wurden, verteidigte sie. Mehr als 80 Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Übersetzerinnen und Übersetzer, Dichterinnen und Dichter und Aktivistinnen und Aktivisten wurden zwischen 1988 und 1998 im Rahmen der sogenannten Kettenmorde im Iran getötet. Zahlreiche weitere Menschen verschwanden.
Optimistischer Blick in die Zukunft
Ebadi arbeitete auch dann weiter, als ihr eigener Name auf der Tötungsliste der Regierung stand. Mit ihrer Friedensnobelpreisauszeichnung im Jahr 2003 verstärkten sich die Morddrohungen und auch die Familie geriet ins Fadenkreuz. Die iranischen Behörden schlossen das Büro ihrer Menschenrechtsgruppe und beschlagnahmten ihre Nobelmedaille.
Seit 2009 lebt Shirin Ebadi im Londoner Exil - sie weiß, dass sie vom Ausland aus mehr für ihr Volk erreichen kann.
Aktuell fordert sie ein von der UNO überwachtes Referendum, um die Islamische Republik friedlich in eine "säkulare parlamentarische Demokratie" zu überführen.
Trotz allem Übel im Iran blickt sie optimistisch in die Zukunft: "Ich weiß, dass der Iran demokratisch sein wird, aber ich kann momentan kein Datum dafür nennen. Vielleicht in sechs Monaten, vielleicht in ein paar Jahren. Man kann gesellschaftliche Veränderungen nicht wirklich vorhersehen und voraussagen. Aber ich weiß, dass sie passieren werden."
© Deutsche Welle 2022
Adaption aus dem Englischen: Bettina Baumann