Wenn sich die Angst einschleicht
Nur vier Minarette gibt es in der Schweiz – und doch wurde landesweit über ein Minarettverbot debattiert. Einige Hundert Burka-Trägerinnen gibt es in Deutschland – und doch diskutieren wir bundesweit über ein Burka-Verbot. Der Ausländeranteil liegt in Dresden bei 2,2 Prozent – und doch demonstrieren 10.000 Menschen gegen die Islamisierung des Abendlandes. Woher kommt die Angst vor einer Bedrohung, die real nicht existiert?
Die Geschichte zeigt, dass die Verbindung gesellschaftlicher Probleme mit der angeblichen Bedrohung durch eine religiöse Minderheit ein häufig angewendetes Konstrukt ist. Angeheizt durch politische Rhetorik, ist sie in erster Linie ein Produkt von Ignoranz und Phantasie, wie die Philosophin Martha Nussbaum es beschreibt. Doch Angst hat eine biologische Funktion, ohne Angst wären wir alle schon tot.
Einen besonderen Überlebensvorteil hat derjenige, der sich auch auf das Auftauchen eines plötzlichen Angreifers vorbereitet. Die Angst davor, es könne jemand aus dem Hinterhalt auftauchen, ist also sinnvoll. Das Wissen über eine mögliche Gefahr vermittelt zudem ein Gefühl der Überlegenheit: Während alle anderen die böse Kraft, die ihr wahres Gesicht verhüllt hat, nicht durchschauen, kann derjenige, der frühzeitig Gefahren erkennt, am Ende zum Retter der Gemeinschaft werden. Das schmeichelt dem Ego – und führt derzeit zu irrationalen Reaktionen. Angst ist eines der Gefühle, das zu dem primitivsten gehört, Angst braucht kein entwickeltes Denken, Angst verdrängt rationale Einsichten.
Stellen Sie sich vor, eine Gruppe A wird immer wieder als rückständig, gewaltaffin und frauenverachtend dargestellt. In der Realität lassen sich aber kaum sichtbare Unterschiede zwischen der Gruppe A und einer Gruppe B erkennen. Wie also lässt sich die kognitive Dissonanz zwischen Realität und Konstruktion überwinden? Indem man der Gruppe A unterstellt, sie agiere im Verborgenen, aus dem Hinterhalt. Es wird folglich gewarnt vor einer schleichenden Islamisierung Deutschlands – so wie Ende des 19. Jahrhunderts vor der römisch-katholischen Einwanderung in die Vereinigten Staaten gewarnt wurde.
Angst-Rhetorik damals wie heute
Die Angst-Rhetorik ist damals wie heute die gleiche geblieben: Katholiken galten als tiefe Bedrohung für die Demokratie, Gleichheit und säkulare Werte. Feministinnen, die für das Frauenwahlrecht gekämpft hatten, befürchteten, die katholische Einwanderung behindere den Kampf um die Gleichstellung der Frau. Die katholische Frau galt als unterdrückt, die Haube der Nonne als Beleg für religiösen Extremismus, der Frauen unterwerfe. Die hohe Geburtenrate der katholischen Frau, die eine Geburtenkontrolle ablehnte, würde sehr bald zu einer katholischen Mehrheit führen, die ihre streng-religiösen Vorstellungen durchsetzen würde.
Terroranschläge sowie der Aufstieg des Faschismus im katholischen Teil Europas schienen dies zu belegen. Katholiken würden, sobald sie an der Macht waren, ein radikal göttliches Gesetz einführen und die Vereinigten Staaten zu einer „katholischen Republik“ machen. Kurzum, die katholische Einwanderung galt als ernste Bedrohung für den Liberalismus.
Die Ängste, die die Pegida-Bewegung schürt, sind also nicht neu. Sie bedient sich der Argumentation der Eurabien-Aktivisten, die seit Jahren davor warnen, die Fruchtbarkeit der muslimischen Frau werde Europa aushöhlen und zu einer muslimischen Mehrheit führen, die die Scharia einführen werde.
Die Fakten sagen: Die Geburtenrate sinkt weltweit mit zunehmender Verstädterung und höherem Bildungsniveau und führt auch in Europa dazu, dass sie bei muslimischen Einwanderern innerhalb kürzester Zeit drastisch sinkt. Studien zeigen, dass die muslimische Bevölkerung bei gegenwärtigen Einwandererzahlen und Trends bei den Geburtenraten auch in den nächsten Jahrzehnten unter 10 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU ausmachen wird. Derzeit sind weniger als 15 Prozent der Einwanderer in Deutschland Muslime. Und doch scheint die eigene Identität in Frage gestellt, wenn Muslime ihre Religion sichtbar machen.
Diffuser Angstreflex
Warum diskutieren wir immer wieder über ein Burka-Verbot? Eines der zentralen Argumente der Burka-Gegner lautet, die Gesichtsverschleierung stehe für die Unterdrückung der Frau und degradiere sie zum Objekt. Doch woher wissen sie das so genau? Ich kenne viele Frauen, die ihr Gesicht verschleiern und weiß, dass sie größtenteils ein normales, selbstbestimmtes Leben führen.
Lässt sich Unterdrückung an einem Kleidungsstück ablesen? Die Weltgesundheitsorganisation spricht von einem "epidemischen Ausmaß" der Gewalt gegen Frauen weltweit, auch in Europa berichtet jede dritte Frau von Erfahrungen mit sexueller oder körperlicher Gewalt – ohne Burka.
Studien über Burka-Trägerinnen gibt es keine. Und selbst wenn ein Zusammenhang von Burka und Unterdrückung statistisch belegt wäre, müsste man dann konsequenterweise nicht auch Alkohol verbieten? Seit langem ist der enge Zusammenhang von Alkoholkonsum und Nötigung sowie Gewalt gegen Frauen bekannt. Eine weitere eklatante Inkonsequenz in dieser Argumentation liegt darin, dass unsere gesamte Gesellschaft durchzogen ist von Postulaten, die Frauen zum Objekt degradieren. "Sexmagazine, Pornografie, enge Jeans, enthüllende Kleidung – all das behandelt Frauen als Objekte und ist in der Medienkultur weit verbreitet", wie Martha Nussbaum zu Recht einwendet.
Es scheint die Beobachtung Sigmund Freuds zuzutreffen, dass das Unheimliche, das uns Angst macht, das verdrängte Eigene ist. Gerade über die Geschlechterordnung offenbart sich das Unbewusste einer Kultur. Vor wenigen Jahren waren es nahezu identische Argumente, die zu einem Verbot des Kopftuches für Lehrerinnen geführt haben. Das Kopftuch wurde als eindeutiges Symbol der Unterdrückung encodiert, obwohl empirische Daten zeigen, dass über 90 Prozent der Trägerinnen in Deutschland es aus religiösen Gründen anlegen. Der unterstellte Zusammenhang zwischen Verhüllung und Unterdrückung entlarvt mitunter, dass eine entlastende Projektion des eigenen "Defekts" auf die muslimische Frau vorgenommen wird.
Denn im Christentum wird die Verschleierung in den Korintherbriefen tatsächlich als ein Zeichen für die Unterordnung der Frau beschrieben, wohingegen sich eine solche Erklärung der Verhüllung im Koran nicht findet. Die muslimische Frau dient dann auch als Negativfolie, über die man sich selbstidealisierend seiner eigenen Fortschrittlichkeit versichert und die fehlende Geschlechtergerechtigkeit im eigenen Land ausblenden kann.
Imaginierte Bedrohung durch das Fremde
Die Konzentration auf eine vollständig imaginierte Bedrohung durch das Fremde führt letztlich dazu, dass wirklich wichtige Themen nicht verhandelt werden. Was schwerer wiegt: In Zeiten notwendiger Immigration sollte es ein wichtiges Ziel sein, den gesellschaftlichen Zusammenhang zu stärken. Der entsteht jedoch nicht durch eine misstrauische Verbotskultur.
Wir müssen erkennen, dass unsere religionspolitische Ordnung sich angesichts der Pluralisierung unseres Landes verändern muss und die in den Grundrechten manifestierten Gerechtigkeitsprinzipien das Fundament darstellen. In einer solchen politischen Gemeinschaft kann es nicht darum gehen, die Vorstellungen der Mehrheit mit Verboten und Demonstrationen durchzusetzen. Es muss darum gehen, Minderheiten als Gleiche zu respektieren und sie zugleich verschieden sein zu lassen. Dann erst werden sie zu einem selbstverständlichen Teil der Gesellschaft, der sich nicht mehr zum Schüren irrationaler Ängste eignet.
Khola Maryam Hübsch
© Qantara.de 2014
Khola Maryam Hübsch, Jg. 1980, lebt als Journalistin und Autorin in Frankfurt am Main. Zuletzt veröffentlichte sie: "Unter dem Schleier die Freiheit – Was der Islam zu einem wirklich emanzipierten Frauenbild beitragen kann" (Patmos, 2014).