"Ein Geschenk Gottes für Indonesien"
Der große Bruder, Schwarm aller Mädchen, hat sich verändert: Religion bestimmt nun sein Leben. Doch langsam beginnt seine jüngere Schwester ihn für die Ernsthaftigkeit, mit der er den Islam im Alltag praktiziert, zu bewundern. An dem Tag, als sie ihn zum ersten Mal mit Kopftuch überraschen will, verunglückt er tödlich. Auf dem Sterbebett darf er die endgültige Hinwendung seiner geliebten Schwester zum Islam noch erleben.
"Als Mas Gagah von uns ging" (1993) ist eine frühe Kurzgeschichte von Helvy Tiana Rosa, die zusammen mit ihrer Schwester Asma Nadia zu den Wegbereitern und bis heute einflussreichsten Autorinnen des indonesischen Genres der Sastra Islami, "islamischen Literatur", zählt. Kurzgeschichten wie diese waren erste Versuche, den Idealen und Selbstbildern der in der späten Suharto-Zeit von den Hochschulen ausgehenden islamischen Revitalisierung auch literarisch Ausdruck zu geben.
Religiös korrekte Literatur für junge Muslime, dakwah bil qalam – Mission mit der Schreibfeder –, das wurde 1997 auch zum Leitbild des engagierten Schreibkollektivs "Forum Lingkar Pena" (Schreibzirkelforum), kurz FLP, zu dessen Gründungsmitgliedern Helvy Tiana Rosa und Asma Nadia ebenfalls gehören.
FLP steht der von den Ideen der Muslimbruderschaft beeinflussten Partei PKS nahe und entwickelte sich zu einer vitalen literarischen Basisbewegung. Mit Zweigstellen in den meisten Provinzen sowie im Ausland und nach eigenen Angaben um die 5.000 Mitgliedern, davon rund 70 Prozent Frauen, verbindet FLP islamischen Idealismus mit Leseförderung, Schreibworkshops und Schreibwettbewerben. Aufsehen erregten unter anderem Kurzgeschichtensammlungen von FLP-Mitgliedern, die in Hongkong als Hausmädchen arbeiten.
Eine "Geschichtenschreiber-Fabrik"
Die Wochenzeitschrift Tempo nannte FLP einmal eine "Geschichtenschreiber-Fabrik", und in der Tat gilt literarisches Schreiben im Sastra Islami-Milieu häufig als ein gottgefälliges Handwerk, das jeder erlernen kann. Gerne teilen erfahrenere Autoren ihre Schreibtipps mit Anfängern. Anders als im eher elitär ausgerichteten Literaturbetrieb westlicher Prägung herrscht hier ein Ethos von geteiltem Idealismus, Gemeinschaft und gegenseitiger Motivation – ganz der indonesischen Vorliebe für kollektive Verbundenheit und persönlichen Kontakt entsprechend. Facebook und Twitter werden von den etablierten Autoren des Genres intensiv zur Kommunikation mit ihren Lesern genutzt.
Mit Habiburrahman El Shirazys Roman "Liebesverse" gelang der Sastra Islami 2004 ein phänomenaler Erfolg. Von der melodramatischen Liebesgeschichte um den vorbildlich frommen indonesischen Studenten Fahri an der Kairoer Al-Azhar-Universität wurden allein in den ersten vier Jahren um die 750.000 Exemplare verkauft, die Verfilmung 2008 zog mehr als drei Millionen Zuschauer in die Kinos – Zahlen, die nur von Andrea Hiratas "Regenbogentruppe" übertroffen wurden.
Sastra Islami wird von ihren Vertretern als Korrektiv gegenüber einer zunehmenden "Verwestlichung" und "Säkularisierung" gesehen. Das Genre ist damit auch eine Gegenbewegung zu einem anderen einflussreichen Trend indonesischer Literatur seit dem Fall Suhartos 1998: dezidiert säkular ausgerichtete Literatur, für die Autorinnen wie Ayu Utami stehen. Mit ihren gezielt tabubrechenden Beschreibungen weiblicher Lust und Homosexualität sorgten sie um die Jahrtausendwende für Aufsehen – und im konservativ-muslimischen Milieu für Alarmstimmung.
Der Dichter Taufiq Ismail wetterte 2006 gegen die von ihm so genannte "Bewegung entfesselter Wollust". Er sprach von "horizontaler Literatur", die das Schamgefühl der indonesischen Kultur zerstöre und das Land in den moralischen Abgrund stürze. FLP hingegen sei ein "Geschenk Gottes für Indonesien".
Islamische Selbstoptimierung
Der religiös-didaktische Anspruch des Genres umfasst längst auch Anleihen aus dem in Indonesien höchst populären Selbsthilfe- und Selbstoptimierungsmarkt. Dabei geht es nicht nur um die recht protestantisch anmutende Botschaft, dass fromme Lebensführung mit Erfolg einhergeht, sondern auch um vergleichsweise alltägliche Lifestylefragen. Asma Nadia veröffentlichte Bücher wie "Jilbab Traveler" und "Sei keine nervige Muslimin!" mit Tipps, wie auch Kopftuchträgerinnen als Backpacker die weite Welt entdecken können und wie man sich als Muslimin verhalten sollte, um seinen Mitmenschen nicht auf den Wecker zu gehen.
In "Lâ Tahzan for Jomblo" ("'Sei nicht traurig' für Singles" – die Kombination von arabischen, englischen und indonesischen Slang-Phrasen ist typisch für Sastra Islamis jugendlich-hippen Sprachstil) geben Asma Nadia und andere Autoren in Form von humorvollen, flott geschriebenen Erfahrungsberichten verzweifelten Singles Zuspruch.
Die Auffassung, dass Literatur "schön" und für die Gesellschaft "nützlich" sein solle, hat eine lange Tradition, an die Sastra Islami anknüpft. Wie sehr diese Literaturauffassung auch heute die Leseerwartungen bestimmt, zeigt die große Bedeutung, die Leser den "inspirierenden Zitaten" zumessen. Eine gelungene Geschichte muss "inspirierend" und "motivierend" sein – und das Inspirierende sollte sich in Form von einprägsamen Zitaten zur persönlichen Lebenshilfe nutzen lassen.
Das "inspirierendste" Buch der jüngeren indonesischen Literatur war natürlich Andrea Hiratas "Regenbogentruppe". Der Roman gilt als motivierender "Beweis", dass der Traum vom sozialen Aufstieg durch Fleiß und Bildung möglich ist. Auch Ahmad Fuadis Roman "Land der fünf Türme" über seine Jugend in einem Pesantren (islamischen Internat) bedient diese populäre Größenphantasie. Man jadda wajada – "wer sich anstrengt, wird erfolgreich sein", so lautet das im Pesantren gelernte arabische Motivationsmantra, das er an seine dankbaren Leser weitergibt.
Die strikte Einhaltung islamischer Vorschriften – das Tragen des hoch idealisierten Kopftuchs gilt in diesen Texten als absolute Pflicht jeder "richtigen" Muslimin – scheint vor allem als symbolischer ethischer Rahmen für einen modernen, islamisch-indonesischen Identitätsentwurf zu dienen, unter dessen Dach sich globale Erfolgsideologien mit lokalen Bedürfnissen nach Bewahrung kollektiver und familiärer Verbundenheit vereinbaren lassen.
Es geht in Sastra Islami bezeichnenderweise vor allem auch um Liebe – zu Gott und den Eltern, zwischen Ehepartnern – und um islamisch begründete Werte wie Mitgefühl, Geduld, Dankbarkeit, Vergebung und soziale Verantwortung.
Beschwörung einer idealen Welt
Derzeit wird "Als Mas Gagah von uns ging" verfilmt, Crowdfunding und Casting liefen unter dem Motto "Das ist unser Film! Wir finanzieren ihn, wir machen ihn, die Welt sieht ihn!" Der Film solle die Schönheit des Islam zeigen, aber nicht belehrend sein, um so auch Jugendliche aus weniger islamisch geprägten Milieus anzusprechen. Gegenüber der Zeitung Republika sagte Helvy Tiana Rosa: "Wir hoffen, dass der Film nicht nur von Kopftuchträgerinnen geschaut wird, sondern auch von Hipster-Teenies und Punks."
Sastra Islami hat also längst Teil an der Kommerzialisierung und "Mainstreamisierung" des Islam als Ideal moralisch orientierter Lebensführung, die modisches Trendbewusstsein, Spaß und Teilhabe an der globalen Moderne nicht ausschließt. Sie beschwört eine ideale, auch den Westen mit einschließende Welt des islamisch Guten und Tugendhaften.
Ausgeblendet bleiben dabei problematische Entwicklungen des politisierten Islams ebenso wie Ambivalenzen und Abgründe der gegenwärtigen Frömmigkeitsbegeisterung. So hofft Helvy, dass ihr Film nicht nur konsumorientierte Teenager begeistern, sondern auch Anhänger von Organisationen wie Hizbut Tahrir ansprechen wird. Die Grenzen zwischen Islam als popkulturellem Identitäts-Lifestyle und politischer Ideologie verlaufen fließend und werden nicht explizit thematisiert, zu sehr steht Sastra Islami für den Traum einer alle Muslime umfassenden globalen Gemeinschaft.
Auch der Blick auf den Westen mutet naiv an. In Hiratas "Träumer" erhält Arai ein EU-Stipendium an der Sorbonne für ein Forschungsvorhaben, das mit Harun Yahyas bizarren "Theorien" die Evolutionstheorie widerlegen will – das wurde in der deutschen Übersetzung gestrichen, von vielen seiner indonesischen Leser aber wohl gerne geglaubt.
Ein kritisches Nachdenken über das Eigene und Fremde sucht man also in der gegenwärtigen Sastra Islami zumeist vergebens. Die vornehmlich jungen Leser erwarten literarische Vorbilder und einfache Anleitungen für einen modernen, aber auch gottgefälligen feel-good-Lifestyle. Sastra Islami verkauft ihnen die dazu passenden Mythen.
Bettina David
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