Scheidung per Mail
Über die Verfassungsmäßigkeit des altertümlichen islamischen Scheidungsrechts und der in hohem Maße illiberalen Praxis streiten die Inder seit Jahrzehnten, letztlich seit ihrer Unabhängigkeit im Jahr 1947. Mit einem Urteil des Höchsten Gerichtes soll – so der Wunsch der Regierung in Neu Delhi – der Dauerzwist jetzt endlich beigelegt werden.
Kommentare über das Talaq-Thema füllen gegenwärtig wieder einmal die Meinungsseiten der indischen Tageszeitungen, in den Talkshows der TV-Sender liefern sich Anhänger und Gegner laute Wortgefechte. Die Frage, welches Scheidungsrecht für Indiens Muslime gelten soll, ist weit mehr als ein juristischer Disput. Hier geht es um das prekäre Verhältnis von Hindu-Mehrheit zu Muslim-Minderheit, vor allem – und alles überlagernd – um die grundsätzliche Frage: Wie säkular ist Indien?
In Indien leben 180 Millionen Muslime. Nur in Indonesien ist die Zahl der Menschen muslimischen Glaubens größer als hier. Dem kolonialen Erbe ist es zuzuschreiben, dass für diese Menschen ein eigenes islamisches Personenstandsrecht gilt. Diese Tradition haben alle Regierungen unterschiedlicher ideologischer Couleur auch im Zuge der Unabhängigkeit nicht angetastet. Das bedeutet, dass bei Heirat, Scheidung, Adoption oder Erbfolge für Indiens Muslime die Scharia gilt.
Nach Ansicht islamischer Rechtsgelehrter, die auf Teile der Minderheit nach wie vor einen starken Einfluss ausüben, ist die talaq-Scheidung durch islamisches Recht gedeckt. In der indischen Presse nehmen derweil Berichte über muslimische Frauen, deren Ehen durch Talaq aufgelöst wurden, breiten Raum ein; bisweilen geschehen die "Blitzscheidungen" – so erfährt die Leserschaft – elektronisch per Email, neuerdings gar per SMS oder WhatsApp.
Verhärtete Fronten
Im Rechtsstreit sind die Fronten hart und klar definiert: "Talaq ist eine Glaubensfrage für die Muslime, eine 1.400 Jahre alte Praxis. Es liegt außerhalb der Befugnisse des Gerichtes, über sie zu urteilen", sagt der Vertreter des "All Indian Muslim Personal Law Board" (AIMPLB). Hinter dem sperrigen Namen verbirgt sich der 1973 gegründete Verband, dessen wichtigstes Ziel die Verteidigung eines eigenen islamischen Personenstandsrechts für die Muslime in Indien ist. Konservative Muslime unterstützen den Verband. Bei liberal gesinnten Mitgliedern der Minderheit hat die Organisation weniger Zuspruch.
Diametral entgegengesetzt ist die Argumentation der Regierung. "Talaq ist nicht Bestandteil der Religion", sagt Generalstaatsanwalt Mukul Rohatgi und verweist auf die Rechtspraxis in einer Reihe mehrheitlich muslimischer Staaten, etwa Pakistan, Bangladesch, Ägypten oder Marokko. Dort sei der Islam Staatsreligion, das Familienrecht verbiete aber die "Blitzscheidung". Zudem verstoße die Talaq-Praxis gegen den Gleichheitsgrundsatz. Sie sei eine Diskrimierung im Verhältnis der betroffenen Frauen zu ihren Ehemännern und deren Verhältnis zur großen Mehrheit der Inderinnen, die nicht von der archaischen Praxis betroffen sind.
Tatsächlich betrifft die Debatte über das Scheidungsrecht nur eine vergleichsweise kleine Gruppe von Menschen. In einem Beitrag der Tagszeitung The Hindu zitiert der Generalsekretär des "Islamic Forum", A. Faizur Rahman, Daten der Volkszählung von 2011: Demnach seien von Indiens 84 Millionen Musliminnen "nur" 212.000 geschieden. Das sei ein Anteil von 0,25 Prozent. Wieviele von diesen Frauen ihre Ehe nach dem Scharia-Verfahren beeendet haben, geht daraus nicht hervor.
Experten sind sich einig, dass die Duldung der Talaq-Praxis vor allem ein Ergebnis fehlender Bildung sei. Sie belegen die These damit, dass die "Blitzscheidung" in ländlichen Regionen verbreiteter sei als in den vergleichsweise modernen urbanen Zentren Indiens.
Scheidungsrecht für Muslime auf Geheiß der Regierung?
Die Regierung hat inzwischen angekündigt, sie werde ein eigenes Scheidungsrecht für Muslime beschließen, sollte das Oberste Gericht die Talaq-Praxis als verfassungswidrig deklarieren. Bei liberalen Indern aller Konfessionen könnte Ministerpräsident Narendra Modi, der sich in der aktuellen Debatte auffällig zurückhält, auf diese Weise politische Punkte sammeln.
Kritiker räumen ein, der säkulare Eiferder von der Hindu-Partei BJP gestellten Regierung stehe kaum in Einklang mit der religiös-geprägten Agenda in anderen Fragen: Dabei denken sie vor allem an die "Kuh-Politik" der BJP – die auf den Schutz der den Hindus heiligen Kuh fokussierte Politik hat dazu geführt, dass in von der Partei regierten Bundestaaten Fleischverbote verhängt werden. Dies kommt bei gläubigen Hindus gut an, übergeht aber die Interessen (und die Traditionen) religiöser Minderheiten. Längst ist von "Majorisierung" die Rede, unter der vor allem die Muslime zu leiden hätten.
Wie auch immer der Streit über das Scheidungsrecht ausgehen wird: Die Diskussionen über die Rolle der Religion in Politik und Gesetzgebung und die Rechte der religiösen Minderheiten werden in der größten Demokratie der Welt nicht verstummen.
Ronald Meinardus
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Dr. Ronald Meinardus ist der Leiter des Regionalbüros Südasien der Friedrich Naumann Stiftung in Neu Delhi.