Das Echo des Holocaust
Die zwei Minuten, in denen das öffentliche Leben in Israel einmal im Jahr zum Erliegen kommt, sollen der schweigenden Erinnerung an den Holocaust und an die Akte des Widerstands gegen die Nationalsozialisten dienen. Landesweit ertönen dazu um zehn Uhr vormittags Sirenen, und die Menschen lassen ruhen, was immer sie gerade tun – arbeiten, spazieren gehen, Auto fahren.
Am 6. Mai wurde wie in jedem Jahr der "Tag der Erinnerung an die Schoa und das Heldentum“ wieder begangen. Viele dürften in Gedanken jedoch bei einem weniger weit zurückliegenden Ereignis verharrt sein. Der 7. Oktober 2023, die grausamen und für die allermeisten unvorstellbaren Massaker der Hamas haben sich in Israels Seele eingebrannt. Offizielle Vertreter, etwa Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, sprechen oft vom "schlimmsten Verbrechen am jüdischen Volk seit dem Holocaust". Sie verweisen auf die Zahl von mehr als 1150 Menschen, überwiegend Juden, die an einem einzigen Tag getötet wurden.
Einige sind indessen noch weiter gegangen. Sie haben den 7. Oktober implizit oder explizit mit dem Holocaust verglichen. "Das war eine Schoa" – diesen Satz hört man in Israel bis heute, wenn es um den Terrorangriff geht. Vergleiche des Völkermords an den Juden mit anderen Ereignissen haben in den vergangenen Jahren wiederholt heftige Debatten in westlichen Gesellschaften ausgelöst, insbesondere in Deutschland. Viele wenden sich dabei energisch gegen eine Relativierung der "Singularität des Holocaust".
Schoa als Kernelement israelischer Identität
Dass die Vergleiche, die nach dem 7. Oktober gezogen wurden, demgegenüber wenig Echo hervorgerufen haben, könnte sich mit den spezifischen Umständen erklären lassen: dem Schock durch den Terrorangriff, dem anhaltenden Krieg, Respekt vor den Betroffenen, der Identität der Opfer.
Die Frage, wie sich der Holocaust und der 7. Oktober zueinander verhalten, bleibt damit jedoch ungeklärt. Das ist nicht nur eine akademische Frage: Die Schoa ist im Laufe der Jahrzehnte zu einem Kernelement der nationalen Identität Israels geworden – was manche gutheißen und andere kritisieren. Die Einordnung des 7. Oktober wird damit auch zu einer politischen Angelegenheit.
Darüber hinaus nimmt der Holocaust einen wichtigen Platz im kollektiven Gedächtnis der Menschheit ein – selbst wenn seine Bindewirkung schwächer geworden ist angesichts vielfältiger, zum Teil konkurrierender Erinnerungskulturen. Wie sich der 7. Oktober in diese Erzählungen einfügen wird, wie die Erinnerung und das Gedenken an den Holocaust sich verändern werden, ist noch offen. Es zeichnet sich aber schon ab, dass dieser Prozess nicht ohne Konflikte ablaufen wird – und dass er politisiert und instrumentalisiert werden könnte.
Auf einer unmittelbaren Ebene wurden beide Ereignisse schon am 7. Oktober selbst miteinander konfrontiert. Mehrere Holocaustüberlebende, die in den Kibbuzim um den Gazastreifen wohnten, erlebten auch den Überfall der Hamas. Eine von ihnen, Sarah Jackson, wurde sogar zur Retterin in der Not.
Rettung im Kibbuz Saad
Die 88 Jahre alte Frau nahm an jenem Morgen mehrere junge Leute in ihrer Wohnung im Kibbuz Saad auf. Sie hatten es geschafft, vom Supernova-Musikfestival zu fliehen, wo Hamas-Terroristen 364 Feiernde ermordeten. Die jungen Israelis blieben mehrere Stunden in der Wohnung der alten Frau, bis sie es für sicher genug befanden, den Kibbuz wieder zu verlassen.
Einige Monate später trafen sich Jackson und drei ihrer unerwarteten Gäste vom 7. Oktober im Norden Tel Avivs wieder: auf Einladung der Organisation Zikaron ba Salon – "Erinnerung im Wohnzimmer“. Bei diesen Veranstaltungen, die es seit einigen Jahren gibt, kommen vor allem junge Israelis in Privatwohnungen zusammen, um sich von Holocaustüberlebenden deren Geschichten erzählen zu lassen. Auf diese Weise sollen deren Erinnerungen für die nachfolgenden Generationen bewahrt werden.
Jackson, eine rüstige Frau mit kurzen weißen Haaren, hatte schon am 7. Oktober versucht, ihren Gästen von ihrem Leben zu erzählen. Sie habe gedacht, das würde die aufgewühlten jungen Leute vielleicht beruhigen, sagte sie. "Aber sie haben nicht wirklich zugehört“, sondern seien ständig mit ihren Mobiltelefonen beschäftigt gewesen, als sie gemeinsam im Schutzraum der Wohnung ausharrten.
An diesem Abend, in der Wohnung von Zikaron-ba-Salon-Gründerin Sharon Buenos, holte Jackson das nach. Ausführlich berichtete sie, wie die deutsche Luftwaffe 1939 ihren Heimatort Tomaszów in der Nähe von Łódź bombardierte; sie war da vier Jahre alt. Ihre Familie floh umgehend nach Osten. Von dort wurden sie von der sowjetischen Armee nach Sibirien deportiert, wo Jacksons Eltern als Holzfäller und in Kohleminen arbeiteten. Nach Kriegsende kehrten sie für kurze Zeit nach Polen zurück, aber "dort war nichts zum Zurückkehren". Auf verschlungenen Wegen gelangte Jacksons Familie stattdessen ins neugegründete Israel.
"Ich konnte nicht glauben, dass es wieder passiert"
Anschließend erzählten die drei jungen Israelis, wie sie den 7. Oktober erlebt und wie sie Unterschlupf in Jacksons Wohnung gefunden hatten. Ihre Flucht sei chaotisch verlaufen, niemand habe die Situation überblickt, erzählte der 34 Jahre alte Ilya Pisatzkov. Durch pures Glück seien sie im Kibbuz Saad gelandet, der von den Angriffen wundersamerweise verschont blieb. Dort hätten sie die alte Frau auf einer Veranda gesehen. "Und dann hat sie uns in ihr Haus eingeladen", sagte Pisatzkov, worauf Jackson lächelnd erwiderte: "Ihr habt euch selbst eingeladen."
Mit Blick auf die Lebensgeschichte der alten Frau und seine eigenen Erlebnisse bemerkte Pisatzkov: Die Tatsache, dass 75 Jahre nach der Gründung Israels Juden wieder um ihr Leben rennen mussten, habe ihn "sehr ins Grübeln gebracht". Sarah Jackson selbst antwortete auf die Frage, ob der 7. Oktober für sie ein neuer Holocaust sei, das sei eine schwierige Frage.
"Ich selbst habe mit dem Thema Krieg 1945 abgeschlossen. Wann immer es irgendwo Krieg gibt, will ich nicht darüber nachdenken." Auch am 7. Oktober sei das so gewesen: Sie habe nicht verstanden, was los gewesen sei - vielleicht habe sie es nicht verstehen wollen. "Ich konnte nicht glauben, dass es wieder passiert."
Viele fühlen sich an Holocaust erinnert
Andere Einschätzungen klingen gewisser. Yaelle Bonnet, ebenfalls eine Überlebende der Supernova-Party, schilderte der "Jewish Telegraphic Agency" ihre Flucht, in deren Verlauf eine kleine Gruppe mehrere Stunden lang durchs Gelände marschierte. "Wir hatten kein Wasser, alle waren ziemlich still. Es fühlte sich an wie eine Todeskarawane, als ob wir den Holocaust noch einmal erleben würden", sagte die 21 Jahre alte Israelin. Sie fügte hinzu: "Es ist sehr schwer, das zu sagen, aber ich erlaube mir, es zu sagen."
Bonnets Schilderung von Mitte Oktober mag noch stark unter dem Eindruck der Ereignisse gestanden haben. Aber noch Anfang April sagte der Wissenschaftler Alon Pauker aus dem Kibbuz Be’eri der "Washington Post", er führe seit Monaten Besucher durch den Ort, in dem fast 100 Menschen ermordet wurden: "Ich bin vom Historiker zum Holocaust-Führer geworden – eines eintägigen Holocaust."
Derartige Einschätzungen sind nicht auf die Betroffenen beschränkt. Mehr als ein Drittel der tausend Befragten sagten in einer Umfrage, die das "Europäische Forum" der Hebräischen Universität Jerusalem im Frühjahr durchführte, der 7. Oktober erinnere sie an den Holocaust. Das offizielle Israel verhält sich zu der Frage ambivalent. Netanjahu und andere Amtsträger legen großen Wert auf die Singularität des Holocaust und sie haben diesen öffentlich nie direkt mit dem 7. Oktober verglichen.
Anlässlich des Internationalen Holocaustgedenktags am 27. Januar organisierte die Regierung allerdings eine öffentliche Kampagne in den Vereinigten Staaten, an der auch Ruth Haran teilnahm, die sowohl den Holocaust als auch den 7. Oktober überlebt hat. In einem kurzen Video sagte die 1935 geborene Israelin aus dem Kibbuz Be‘eri: "Wenn Babys in ihren Kinderbetten ermordet werden, wenn Frauen vergewaltigt, zu Boden geworfen und ermordet werden, bösartig, satanisch, unschuldig - das ist eine Schoa!"
Netanjahu vergleicht Hamas mit Nazis
Zudem gab und gibt es indirekte Vergleiche. Die Hamas wurde nach dem Terrorangriff mehrere Monate lang rundheraus mit den Nazis gleichgesetzt. Vor allem Netanjahu betrieb dies – er zog dafür sogar eine angebliche Äußerung von Bundeskanzler Olaf Scholz heran, die dieser nie gemacht hat: dass die Hamas "die neuen Nazis" sei. Netanjahu zielte indessen vor allem darauf, Israel die Unterstützung der Weltgemeinschaft im Krieg gegen die Hamas zu sichern.
Es müsse Einigkeit im Kampf gegen die Hamas geben, so wie die Welt seinerzeit vereint gegen die Nazis gekämpft habe, forderte er. Netanjahu ging auch nicht so weit wie sein ultrarechter Finanzminister Bezalel Smotrich, der die Palästinenser im Gazastreifen pauschal als Nazis bezeichnete, ebenso wie den Großteil der Palästinenser im Westjordanland.
Viele Wissenschaftler oder Vertreter der offiziellen Gedenkkultur sehen solche Äußerungen mit Unbehagen und haben mit Widerspruch reagiert. Dani Dayan, der Vorsitzende der Holocaustgedenkstätte Yad Vashem, sagte im November, er akzeptiere "simplifizierende Vergleiche" nicht - selbst wenn man "Ähnlichkeiten in den völkermörderischen Absichten, dem Sadismus und der Barbarei der Hamas" entdecke.
Zwischen Gefühlen und Verstand
Dayan fügte indessen einen aufschlussreichen Zusatz hinzu: Es sei "offensichtlich", was für Assoziationen die Schilderungen der Gräueltaten vom 7. Oktober bei Juden weckten, sagte er. "Wir haben alle darüber nachgedacht."
Das ist bezeichnend für die Gefühlslage vieler Israelis und Juden nach dem 7. Oktober. Selbst führende Holocaust-Forscher geben zu, dass sie nach dem Terrorakt um ihre Einordnungen ringen mussten – hin- und hergerissen zwischen Gefühlen und Verstand. Hanna Yablonka zählt zu den renommiertesten Forschern auf dem Gebiet. Sie wurde 1950 geboren, ihre Mutter hat Auschwitz überlebt. Den 7. Oktober erlebte Yablonka am Fernsehen.
Was sie am meisten mitgenommen habe, erzählt sie, war eine Israelin aus einem der angegriffenen Orte, die in einer Nachrichtensendung live zugeschaltet war. Sie verstecke sich in ihrer Wohnung, flüsterte die Frau am Telefon, während der Moderator die ganze Zeit nur weinte, und dann sagte sie: "Sie sind in meinem Wohnzimmer." Yablonka sagt, dieses Gespräch habe ihr "einen kompletten Schock versetzt". Denn ihre unmittelbare Assoziation sei gewesen: "Anne Frank in ihrem Versteck, wie sie die Schritte der Gestapo-Leute hört, die die Treppe hinaufsteigen." Drei Tage lang habe sie sich daraufhin praktisch nicht vom Sofa bewegen können.
Dabei sei sie intellektuell schnell zu der Einschätzung gelangt, dass der 7. Oktober kein zweiter Holocaust sei. Damals hätten die Juden weder einen Staat noch eine Armee noch eine starke Zivilgesellschaft gehabt. Yablonka spricht eher von einer "Konversation" zwischen beiden Ereignissen, die "viele Gesichter" habe. Energisch wendet sie sich gegen Versuche der Instrumentalisierung, wie bei denjenigen, die die Hamas als Nazis bezeichnen. Das trivialisiere den Holocaust. "Der 7. Oktober sollte im Kontext Israels im Jahr 2023 gesehen werden, nicht im Kontext Europas im Jahr 1941."
Dennoch ringt die Wissenschaftlerin, die in ihren Urteilen sonst sehr kategorisch sein kann, auch nach Monaten bei dem Thema mit den Worten. "Diese Sache mit dem Holocaust verfolgt mich bis heute", sagt sie. "Ich habe bislang keine Antwort gefunden."
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