Am Anfang stand ein Lächeln

Yalla Parkour (Photo: Promo/PK Gaza)
Schon vor dem aktuellen Gazakrieg dienten einer Gruppe von Extremsportlern Ruinen als Trainingsgelände (Foto: Promo/PK Gaza)

Die Doku „Yalla Parkour“, die auf der Berlinale Europapremiere feiert, ist eine Hommage an Gaza vor dem 7. Oktober – und ein dringender Appell, die Überlebenden des Krieges zu unterstützen.

Von René Wildangel

2015 stößt Regisseurin Areeb Zuaiter im Internet zufällig auf Fotos und Videos von einem Strand in Gaza. Junge Menschen machen akrobatische Sprünge, während im Hintergrund eine israelische Bombe detoniert. Ein breites Lächeln in die Kamera.  

Es sind Mitglieder eines Parkour-Teams aus Gaza, deren Extremsport Kletter-, Turn- und Sprungelemente verbindet. Die Stadt wird dabei zum Trainingsgelände. 

Ihre waghalsigen Aktionen in den Trümmern von Gaza haben in den letzten Jahren eine gewisse internationale Berühmtheit erlangt. Zuaiter ist schon damals beeindruckt vom Mut und Freiheitsdrang der Sportler. Nun hat ihre Dokumentation „Yalla Parkour“ auf der Berlinale Europapremiere gefeiert. 

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Seit 2008 stand Gaza unter einer massiven Blockade vonseiten Israels, aber auch Ägyptens. Den Gazastreifen zu verlassen war nur in Ausnahmefällen möglich, eine insbesondere für Jugendliche und junge Erwachsene belastende Situation. Die Dichte an Bildungseinrichtungen, Universitäten war beeindruckend, doch selbst mit exzellentem Abschluss, selbst mit einem Stipendium von internationalen Top-Universitäten war es nur in Ausnahmefällen möglich, den Gazastreifen zu verlassen.  

Der 2022 entstandene Film Erasmus in Gaza über einen italienischen Medizinstudenten zeigt diese Isolation eindrücklich. Gazas junge Bevölkerung – über 70 Prozent sind unter 30 Jahre alt, fast die Hälfte sind Kinder – suchte nach vielen Wegen, um sich mit der Welt zu verbinden: Ausbildung und Studium, Musik, oder eben Sport. Das alles unter widrigen Bedingungen, aber mit einer riesigen Begeisterung wie bei den jungen Männern der Parkour-Gruppe.  

Erinnerungen an Gaza

Auch 2015 war die Lage in Gaza alles andere als rosig. Der über 50 Tage dauernde Krieg von 2014 war gerade zu Ende gegangen. Für das Parkour-Team werden die Ruinen der vorangegangenen Kriege zum Trainingsgelände. Ein Trainingsgelände, dass nicht ungefährlich ist. Oft kommt es zu schweren Verletzungen. Ein Mitglied der Gruppe stürzt aus etlichen Metern von einem Hochhaus und überlebt schwerverletzt; eine Woche wartet der Sportler auf eine Ausreisegenehmigung zur Behandlung in Israel.  

Keine Frage, dass Zuaiter die jungen Männer – Mädchen sind nicht dabei – für ihren Mut und ihre Sportlichkeit bewundert. Doch sie kann auch aus einem anderen Grund nicht wegsehen: Das Lächeln der Parkour-Sportler erinnert sie an das Lächeln ihrer Mutter auf einem verblichenen Foto vom Strand in Gaza. Damals war Zuaiter mit ihrer Mutter zur Hochzeit ihres Onkels nach Gaza gereist.  

Es war einer dieser seltenen Momente, in der die Regisseurin sich geborgen, zu Hause fühlte: Du bist eine von uns, du gehörst dazu. Der Besuch in Gaza als Vierjährige gehört zu ihren frühsten Erinnerungen. Zuaiter hatte ihre Heimatstadt Nablus noch als Baby verlassen. Seit 2010 lebt sie in den USA. 

Das Lächeln wird zur Chiffre für Geborgenheit und Lebensmut, aber auch für die Sehnsucht nach der unerreichbaren Heimat. 

2015 sitzt Zuaiter im amerikanischen Winter, im Schnee, und beginnt mit Ahmed Kontakt aufzunehmen, einem Mitglied des Parkour-Teams. Ahmed ist nicht der Junge mit dem Lächeln, dieser ist ein Freund der Gruppe, der den Gazastreifen schon verlassen hat. Ahmed postet die Videos der Gruppe in den sozialen Medien. „Unsere Videos sind der einzige Weg, wie uns die Welt überhaupt sieht“, sagt er im Film.  

Die Kulisse des Films existiert nicht mehr

Eineinhalb Jahre nach dem 7. Oktober liegt der Gazastreifen in Schutt und Asche. Unweigerlich fragt man sich bei den Bildern auf der Leinwand: Ob dieses Haus noch steht? Ob dieser Mensch noch lebt? 

„Wir wollten die Realität in Gaza zeigen“, erzählt Ahmed im Interview mit Qantara. „Doch was seit dem 7. Oktober passiert ist, hat alles verändert.“  

Die Orte, an denen er mit seiner Parkour-Gruppe trainierte, sind verschwunden. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind heute 92 Prozent der Gebäude durch israelische Angriffe zerstört oder beschädigt. Die Nachbarschaften und Erinnerungen seiner Kindheit ausradiert. 

„Unser Haus in Khan Yunis wurde zerstört. Mein Bruder ist dort, zwölf Jahre alt, die Schulen sind geschlossen. Es gibt keine Universitäten mehr, keine wirkliche Zukunft. Das Leben steht still, jeder Tag ist derselbe Kampf ums Überleben, um Zugang zu Essen und sauberem Wasser.“ 

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Ahmed schaffte es 2016, nach Schweden auszureisen. Der Film begleitet ihn auch dort. Der Kontakt zwischen Regisseurin und Protagonist ist zur Freundschaft geworden. Im Exil muss Ahmed dasselbe Gefühl durchleben wie Zuaiter: Einsamkeit, die Eintönigkeit des Alltags, das ständige Gefühl, dass etwas fehlt. Er vermisst Gaza, seine Familie, seine Mutter, mit der er nur noch per Videocall in Kontakt ist.  

Nach sieben Jahren erhält er die schwedische Staatsbürgerschaft und kehrt überglücklich für einen kurzen Besuch zurück. „Es fühlt sich an wie ein Traum, der nicht enden will“, schreibt Ahmed auf Instagram. Ausgerechnet einen Monat vor dem 7. Oktober. Er verlässt den Gazastreifen zwar noch bevor die Hölle ausbricht, doch aus dem nicht enden wollenden Traum ist ein Albtraum geworden.  

Trotz Boykott-Aufrufen auf der Berlinale

Dazu kommen noch die ermüdenden, oft polemischen Diskussionen. Regisseurin Zuaiter ist auch in den USA damit konfrontiert. Wer über Palästina redet, müsse immer damit rechnen, angegriffen oder gecancelt zu werden. Ahmed berichtet, seit dem jüngsten Krieg seien seine gesamten Sponsoren abgesprungen. Die Reaktionen auf den Film bei Vorführungen in New York und in Berlin wären dagegen emotional und sehr positiv gewesen. 

Das ist nicht selbstverständlichen nach den vergifteten Debatten über die Berlinale 2024. Damals wurden gegen den jüdisch-israelischen Regisseur Yuval Abraham und seinen palästinensischen Kollegen Basel Adra abstruse Antisemitismusvorwürfe erhoben; nicht nur wegen ihrer harten Kritik an der israelischen Besatzung, sondern auch wegen ihres Films.  

Der Dokumentarfilm „No other Land“ belegt Menschenrechtsverletzungen der israelischen Besatzung am konkreten Beispiel und wurde dafür hochgelobt. Er gewann den Dokumentarfilmpreis der Berlinale 2024 und ist aktuell sogar für einen Oscar nominiert. Immerhin hat die Berlinale in diesem Jahr unter der neuen Festival-Leiterin Tricia Tuttle vorab erklärt, sie wolle Meinungsfreiheit gewährleisten.  

Trotzdem hat es im Vorfeld der Berlinale 2025 Boykottforderungen gegeben; auch gibt es ein spontan durchgeführtes Alternativfestival, die „Palinale“. 

Zuaiter nimmt das Ernst, traf aber eine andere Entscheidung: „Wir haben uns als Team für die Teilnahme entschieden. Wir sind der Meinung, dass diese Geschichte so viele Menschen erreichen sollte wie möglich, und die Berlinale bleibt dafür ein wichtiger Ort.“  

Das gelte gerade in Zeiten, in denen Donald Trump seine grotesken Vorschläge macht, Gaza in ein Urlaubsgebiet ohne Palästinenser:innen zu verwandeln: „Wenn wir den Film jetzt sehen, werden wir sehr, sehr emotional. Weil es das letzte Mal ist, dass wir Gaza so sehen, wie es war. Aber wir glauben daran, dass Gaza bleibt. Dass es eine Zukunft gibt. Gaza war lebendig, und die Menschen haben es trotz aller Schwierigkeiten am Leben gehalten. Und sie werden weiter dort leben, trotz allem.“ 

© Qantara