Bevor unsere Ohren taub werden

Greift Israel den Iran an, um eine mögliche Katastrophe zu verhindern, beschwört es selbst eine sichere Katastrophe herauf. Ein Plädoyer für Zurückhaltung. Von David Grossman

Von David Grossman

Ministerpräsident Netanjahu hat viele Reden gehalten. Seine Zuhörer und sich selbst feuert er häufig mit Erinnerungen an den Holocaust, mit mahnenden Worten über die Bestimmung des jüdischen Volkes und das Schicksal künftiger Generationen an. Bei dieser düsteren Katastrophenrhetorik fragt man sich, ob er unterscheiden kann zwischen den realen Gefahren, die Israel drohen, und den Echos und Schatten historischer Traumata. Diese Frage ist wichtig, denn das eine mit dem anderen zu verwechseln könnte dazu führen, dass Israel diese Echos und Schatten aufs Neue erleben muss.

Sollte all das - die harte Sprache, die eindringlichen Katastrophenbilder - nur eine Taktik sein, die die Welt dazu bringen will, im Fall Iran die Daumenschrauben nun richtig anzusetzen, und sollte diese Taktik auch ohne einen israelischen Angriff Erfolg haben, würden wir natürlich anerkennen, dass Netanjahu seine Sache gut gemacht hat und Lob verdient. Wenn er sich aber in einer hermetischen Gedankenwelt bewegt, in der es hin und her geht zwischen Katastrophe und Erlösung, dann führen wir eine andere Diskussion.

Trauma der Vergangenheit, Trauma in der Zukunft?

Statt das heutige Israel eins zu eins mit den europäischen Juden zu vergleichen, muss eine Frage gestellt werden: Ist es ratsam, dass Israel einen in seinen Folgen unabsehbaren Krieg gegen Iran beginnt, um eine Situation zu verhindern, die tatsächlich gefährlich ist, von der aber niemand mit Gewissheit sagen kann, ob sie wirklich eintritt? Mit anderen Worten: Wird Israel, um eine mögliche Katastrophe in der Zukunft zu verhindern, eine gewiss eintretende Katastrophe in Gang setzen?

Iranischer Raketentest am Persischen Golf; Foto: IRNA
"Zwischen Israel und dem Iran besteht ein Gleichgewicht des Schreckens. Die Iraner haben verkündet, dass Hunderte ihrer Raketen abschussbereit sind, und man darf annehmen, dass Israel dabei nicht auf Dauer untätig zuschaut", schreibt David Grossmann.

​​Im Moment ist das kaum zu entscheiden. Es muss sehr schwer sein für einen israelischen Regierungschef, eine nüchterne Entscheidung zu treffen in einer Situation, die mit dem Trauma der Vergangenheit und dem Gedanken an ein mögliches Trauma in der Zukunft belastet ist. Kann Netanjahu, inmitten dieses Drucks, den er selbst schafft und anheizt, überhaupt zu einer nüchternen und realistischen Entscheidung finden? Zu einer Realität, die nicht Teil eines tragischen, apokalyptischen Mythos ist, der sich in jeder jüdischen Generation immer wieder aufs Neue erfüllen muss?

Denn auch das ist die gegenwärtige Realität: Zwischen Israel und dem Iran besteht ein Gleichgewicht des Schreckens. Die Iraner haben verkündet, dass Hunderte ihrer Raketen abschussbereit sind, und man darf annehmen, dass Israel dabei nicht auf Dauer untätig zuschaut. Das Gleichgewicht des Schreckens, sagen die Experten, besteht aus atomaren, biologischen und chemischen Waffen. Bislang hat diese Abschreckung funktioniert.

Aus dem Staub entstünde neuer Hass

Niemand kann mit Gewissheit sagen, wie lange dieses Gleichgewicht Bestand haben wird. Niemand weiß, ob iranische Atomwaffen oder technische Kenntnisse in die Hände terroristischer Organisation gelangen, und niemand kann ausschließen, dass das gegenwärtige Regime im Iran von gemäßigteren Kräften ersetzt wird. Der Ministerpräsident, der Verteidigungsminister und die Mitglieder des Sicherheitskabinetts, die über einen Angriff zu entscheiden haben, bewegen sich in einem Gedankendilemma, das hauptsächlich aus Annahmen und Spekulation und Angst besteht. Man darf solche Annahmen und Ängste nicht verharmlosen, aber können sie eine solide Grundlage für Aktionen sein, die möglicherweise irreparable Folgen haben?

Israelischer Ministerpräsident Netanjahu inmitten seines Kabinetts; Foto: Reuters
"Es muss sehr schwer sein für einen israelischen Regierungschef, eine nüchterne Entscheidung zu treffen in einer Situation, die mit dem Trauma der Vergangenheit und dem Gedanken an ein mögliches Trauma in der Zukunft belastet ist", meint David Grossmann.

​​Niemand in Israel kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass das iranische Atompotential bei einem Angriff komplett zerstört würde. Niemand weiß genau, wie viel Tod und Zerstörung eine iranische Reaktion für israelische Städte bedeuten würde. Man sollte sich auch des übergroßen Optimismus israelischer Politiker und der illusionären Präzision nachrichtendienstlicher Informationen vor dem zweiten Libanonkrieg erinnern und der irrigen Prognosen im ersten Libanonkrieg, der Israel in eine achtzehnjährige Besatzung verstrickte. Es gibt noch viele andere Beispiele.

Und auch dies: Selbst wenn die Infrastruktur des iranischen Nuklearprojekts zerstört würde - es bliebe das Know-how der Iraner. Diejenigen, die darüber verfügen, würden sich aus dem Staub erheben und eine neue Infrastruktur bauen, diesmal befeuert von der demütigenden Kränkung, vom Hass und Rachedurst des ganzen Volkes.

Kann ein Krieg wirklich Frieden bringen?

Der Iran ist bekanntlich nicht bloß ein radikaler fundamentalistischer Staat. Große Teile der Bevölkerung sind säkular, gebildet und aufgeklärt. Viele von ihnen haben in Demonstrationen gegen das verachtete diktatorische Regime ihr Leben riskiert. Dass ihr Herz für Israel schlägt, will ich gar nicht behaupten, aber sie sind vielleicht diejenigen, die das Land irgendwann regieren werden, und vielleicht werden sie sich sogar für Israel erwärmen. Ein israelischer Angriff würde diese Chance auf Jahre hinaus zunichtemachen. In den Augen selbst moderater, realistischer Iraner wird Israel immer der arrogante, größenwahnsinnige Staat sein, der historische Feind, der bekämpft werden muss. Ist diese Aussicht gefährlicher oder weniger gefährlich als ein atomarer Iran?

David Grossmann; Foto: DW
Ein israelischer Angriff würde selbst bei den moderaten Kräften des Iran, die das Land vielleicht in Zukunft regieren werden, Hass und Rachedurst auslösen, meint Grossmann.

​​Und was, wenn Saudi-Arabien eines Tages ebenfalls Atomwaffen haben will und sie auch bekommt? Wird Israel auch die Saudis angreifen? Und wenn Ägypten unter dem neuen Regime ebenfalls diesen Weg geht? Wird Israel dann Ägypten bombardieren? Und wird es für alle Zeiten das einzige Land im Nahen Osten sein, das Atomwaffen haben darf?

Selbst wenn diese Fragen schon gestellt und abgewogen wurden, wir müssen sie immer wieder stellen, bevor unsere Ohren taub werden vom Schlachtenlärm. Kann ein Krieg uns etwas Gutes bringen? Die Garantie vieler Jahre in Frieden? Die Bereitschaft, Israel als legitimen Partner und Nachbar zu akzeptieren, was auf lange Sicht alle Atomwaffen - unsere und die der anderen - überflüssig machen würde?

Die Angst, an die man sich klammert, ist verführerisch

Eine Antwort auf diese Fragen, die unangenehm sein mag, aber diskutiert werden sollte, ist die: Selbst wenn Wirtschaftssanktionen den Iran nicht dazu bringen, die Urananreicherung zu beenden, und die Vereinigten Staaten aus eigenen Gründen nicht zu einem Angriff bereit sind, wäre es besser, Israel hielte sich zurück, auch wenn das hieße, dass Israel mit einem nuklearen Iran leben müsste.

Das ist schwer zu akzeptieren, und man kann nur hoffen, dass der internationale Druck diese Aussicht verhindert, aber ein israelischer Angriff wäre nicht weniger schmerzhaft und bitter. Und weil niemand sagen kann, ob der Iran tatsächlich angreifen wird, wenn er über Atomwaffen verfügt, darf Israel nicht seinerseits angreifen. Ein solcher Angriff wäre übereilt und würde uns eine Zukunft bescheren, die ich mir lieber nicht vorstellen möchte. Doch, ich kann es mir vorstellen, aber meine Hand weigert sich, es aufzuschreiben.

Ich beneide den Ministerpräsidenten, den Verteidigungsminister und das Sicherheitskabinett nicht. Sie tragen eine ungeheure Verantwortung. Ich denke daran, dass in einer Situation voller Zweifel und Ungewissheit das einzig Gewisse die Angst ist. Für uns Israelis ist es verführerisch, uns an solche Ängste zu klammern, ihnen zu folgen, ihre vertraute Sprache zu hören. Die Befürworter würden einen Militärschlag gegen den Iran bestimmt damit rechtfertigen, dass ein potentieller Albtraum verhindert werden soll. Aber hat irgendein Mensch das Recht, so viele Menschen zum Tod zu verurteilen, nur weil er Angst vor einer Situation hat, die vielleicht nie eintreten wird?

David Grossman

© David Grossman 2012

Aus dem Englischen von Matthias Fienbork

Der israelische Schriftsteller David Grossman, geboren 1954, veröffentlichte zuletzt "Die Umarmung" sowie den Roman "Eine Frau flieht vor einer Nachricht".

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de