Durch die rotzgrüne See
Das größte Problem bei der Übersetzung von James Joyce' Ulysses ins Kurdische bereiteten laut Nemir die vielen Vulgarismen und anzüglichen Witze. Wie kann man "scrotum-tightening sea" (die "scrotumzusammenziehende See") in einer Sprache wiedergeben, die in einer Landschaft aus Gebirgszügen und Hochplateaus entstanden ist, ohne Zugang zum Meer? Wie trifft man den richtigen Ton für die beiläufige Erwähnung einer Masturbation mit Hilfe einer Kerze?
Kawa Nemir, ein äußerst produktiver Autor und Übersetzer englischer Klassiker ins Kurmandschi, eine der drei kurdischen Sprachen, hat mehr als fünf Jahre damit verbracht, solche Fragen zu beantworten. Im vergangenen Jahr hat Nemir die erste vollständige Übersetzung von Joyce' Ulysses ins Kurdische vollendet, die 2018 in Istanbul erscheinen wird.
"Offen gesagt, war es sehr schwer, aber es hat auch großen Spaß gemacht", sagte Nemir kürzlich in einem Interview in Istanbul im Rahmen einer Lesereise. "Ich hege eine große Liebe zu Joyce, und glaube, das war absolut notwendig, um diese Aufgabe bewältigen zu können."
Kurdische Literatur und avantgardistische Moderne
Die Übersetzung stellte nicht nur Nemir vor eine große Herausforderung, sondern auch die kurdische Sprache als solche, die auf eine jahrhundertelange Tradition epischer Dichtkunst zurückgreifen kann, aber nicht gerade für radikal moderne Strömungen bekannt ist. Nemir begann seine Übersetzung am 16. Juni 2012 und schloss sie Ende letzten Jahres ab.
Dass eine Übersetzung des vollständigen Texts so lange dauert, liegt weniger an der Obszönität des Ulysses als an dessen Komplexität. Der Roman bricht mit allen literarischen Konventionen, und im Zweiten Weltkrieg unterstellten sogar gewisse Leute in der britischen Regierung Joyce arglistige Motive und vermuteten, es handele sich um ein in Code verfasstes pro-deutsches Machwerk.
"Es ist mein 'Grand Oeuvre', erklärte Nemir. "Selbst die Übersetzung von Shakespeares Dramen und Sonetten war im Grunde nur eine Vorbereitung für die Übersetzung des Ulysses."
Nemir, der in Igdir, einer mehrheitlich kurdischen Provinz in der Osttürkei, zur Welt kam, lebt heute in Mardin im Südosten des Landes. Neben sechs eigenen Gedichtbänden hat er 25 Werke der englischen und amerikanischen Literatur ins Kurdische übersetzt, darunter Versdichtung und Lyrik von Shakespeare, T.S. Eliot, Emily Dickenson, William Butler Yeats, Sylvia Plath und Walt Whitman.
Eine Lesereise, die letzten Dezember in Van begann, führte Nemir in die Städte Batman, Diyarbakir und Ankara und gipfelte in einem Vortrag des Autors an der Bosporus-Universität in Istanbul.
Keine Rede von Politik
Das derzeitige politische Klima in der Türkei ist angespannt, insbesondere für Kurden und deren kulturelle Äußerungen. In den letzten Jahren sind immer drastischere Formen von Autoritarismus zu verzeichnen, begleitet von einer blutigen Militärkampagne in den vorwiegend kurdischen Provinzen Südostanatoliens und einem massiven Vorgehen der Regierung gegen ihre politischen Gegner.
Auch auf Nemirs Lesereise machte sich das bedrohliche politische Klima bemerkbar. So tauchten bei seiner Lesung in Van Polizisten in Zivil auf und gaben den Organisatoren des Abends zu verstehen, dass das Wort "Kurdistan" nicht ausgesprochen werden dürfe. "Man merkt, dass die Zuhörer sich nicht trauen, bestimmte Fragen zu stellen. Sie fühlen sich beobachtet", kommentierte Nemir.
Auch in Syrien, im Iran und Irak hat die kurdische Kultur mit Krieg und Unterdrückung zu kämpfen. "Unsere Generation hat Angst, viele sind schon weggegangen oder haben es vor. Diejenigen, die bleiben, sind in ihrer Kreativität eingeschränkt, weil wir alle in Gefahr sind."
Im Südosten der Türkei sind die Lebensbedingungen besonders schwierig. Laut Nemir fühlt sich die kleine kurdische Literaturszene, die vor ein paar Jahren dort entstanden ist, neuerdings ganz unmittelbar von dem scharfen Vorgehen der Regierung bedroht. "Viele unserer Freunde wurden aus politischen Gründen verhaftet, unsere Websites und Foren werden überwacht, und auf Twitter dürfen wir zum Beispiel kein Wort schreiben“, erläuterte Nemir. "Die letzten beiden Jahre waren die härteste Zeit unseres Lebens."
Nemir hat englische und amerikanische Literatur studiert und übersetzt, aber gerade in der literarischen Tradition Irlands sieht er Parallelen, die für die Kurden heute wertvoll sein könnten.
"Was die Erfahrung mit dem Kolonialismus betrifft, gibt es zwischen Kurden und Iren Parallelen", glaubt Nemir, in Anspielung auf die britische Invasion und Besatzung. "Natürlich hat die irische Literatur Swift, Wilde, Joyce und all die anderen großen Namen. Was den Status von Weltliteratur angeht, gibt es keine Ähnlichkeiten, aber man könnte von einer Brücke zwischen den beiden Sprachen und Völkern sprechen, trotz ihrer großen geografischen Distanz."
Die Technik des "Stream of Consciousness"
Eine Vielzahl literarischer Stilformen und Sprachebenen in Ulysses sowie Joyce' zahllose Anspielungen auf klassische Texte hatten zur Folge, dass der Übersetzer Anleihen machen musste, und zwar bei Ehmedê Xanî, einem berühmten kurdischen Dichter des 17. Jahrhunderts, und dessen literarischen Kurdisch, wobei Nemir nach eigenen Angaben an die Grenzen seiner linguistischen Kenntnisse stieß. Zudem erforderte Joyce' ausufernde Verwendung von Slang und idiomatischen Wendungen Ausflüge in die kurdische Umgangssprache – ein Bereich, der laut Nemir kaum dokumentiert ist.
Ulysses ist das Paradebeispiel für moderne Erzähltechnik und literarische Avantgarde. Seit seiner Veröffentlichung hat der Roman für reichlich Kontroversen und Kritik gesorgt. Zu den Kontroversen gehören beispielsweise ein Prozess wegen "Obszönität" vor einem US-amerikanischen Gericht und langwierige "Joyce-Kriege" zwischen verfeindeten Literaturwissenschaftlern. Die Technik des "Bewusstseinsstroms", eine ausgeklügelte Erzählstruktur und eine experimentelle Prosa voller Sprachspiele, Parodien und Anspielungen, dazu eine kunstvolle Figurenzeichnung und sein derber Humor haben dazu geführt, dass der Roman als eine der größten literarischen Schöpfungen schlechthin gilt.
"Der Ulysses gibt uns die Möglichkeit, alles einzubringen, was wir haben, mit unserer eigenen Sprache und dem Sprachschatz unseres Volkes zu spielen, und daneben Traditionen zu erkunden, die für die kurdische Literatur neu sind, zum Beispiel die Technik des Bewusstseinsstroms", sagte Nemir.
Ulysses ist im Original schon schwierig genug, und Nemir wünscht sich, dass seine kurdischen Leser seiner Romanübersetzung so viel abgewinnen können wie möglich. Deshalb arbeitet er derzeit an einer kurdischen Lektürehilfe, in der einige der Anspielungen und Slang-Ausdrücke erklärt werden, damit der Roman neuen Lesern besser zugänglich wird.
Die kurdische Literatur, meint Nemir, solle nicht nur ihre eigene Tradition wahren, sondern auch in engeren Kontakt mit den Meisterwerken der Weltliteratur kommen.
Nach der Übersetzung des Ulysses möchte Nemir nun für seinen eigenen, jüngst erschienenen Haiku-Band werben, den er auf Kurmandschi verfasst hat. Mit der Absicht, für seine kurdischen Landsleute noch eine Brücke zu einer anderen literarischen Tradition zu bauen, begibt er sich ein weiteres Mal auf eine Odyssee über die "rotzgrüne See".
Tom Stevenson und Murat Bayram
© Qantara.de 2018
Übersetzung aus dem Englischen von Maja Ueberle-Pfaff