Das einstige kulturelle Zentrum der Welt
"Tief ist der Brunnen der Vergangenheit, sollte man ihn nicht unergründlich nennen?", führt Thomas Mann in seinen epochalen Roman "Joseph und seine Brüder" ein. Das ergiebige Bündel bedruckten Papiers fordert seine Leser heraus und taucht mit gelassener Selbstverständlichkeit tief in die Schichten des alten Orients. Nicht selten benötigt der Leser Hilfsmittel, markiert die Ränder mit Frage- und Ausrufezeichen. Und gerade deswegen ist es ein fantastisches Beispiel, welche Funktion der Literatur zukommt, geht es um das kollektive, kulturelle Gedächtnis der Menschheit.
Die unruhigen Zeiten lechzen nach literarischen Stützen, die Verbindungslinien bauen und Erinnerungsarbeit leisten. Die darauf aufmerksam machen, dass dort, wo sich gegenwärtig Terror und Krieg wie ein Lauffeuer ausbreiten, die Anfänge unseres zivilisatorischen Daseins liegen. Die darauf verweisen, dass das Kollektivgedächtnis nicht von einst gezogenen, geographischen Grenzen limitiert werden darf, wie es das alte Mesopotamien von seinen Anfängen, über die Blütezeit bis hin zum Untergang nicht ansatzweise kannte. Dass das, was die drei großen monotheistischen Religionen zur missverständlichen Wahrung und Ausbreitung nutzten und einige ihrer angeblichen Vertreter sich stets immer noch bedienen - den kriegerischen Mitteln - im alten Orient in keinster Weise zum Pathos gehörte. Ganz im Gegenteil, im Pantheon war einst Platz für jegliche göttliche Ergänzung, Religionskriege kannte man nicht.
Grundlage für Literatur und Wissenschaft
Um Jahrtausende ging der Orient Europa voraus und war bis ins Hochmittelalter das kulturelle Zentrum der Welt. Während der antike, griechische Geschichtsschreiber Herodot im 5. Jahrhundert vor Christus die alte, ägyptische Geschichte bestaunte, verkörperte Rom eine überschaubare Landschaft. Zum Ende der europäischen Eiszeit begann in Mesopotamien, dem sogenannten fruchtbaren Halbmond, der Ackerbau und die Viehzucht, wurden später Getreide und Tiere domestiziert, haben sich erste Siedlungen, anschließend Stadtstaaten und schließlich Territorialmächte herausgebildet. Die frühzeitlichen Festungen Vorderasiens schlummerten bereits unter tausendjähriger Erde, als in Europa die ersten Bauern ihr Land bewirtschafteten.
Mit der orientalischen Erfindung der Schrift um 3.200 vor Christus wurde die Grundlage für Literatur und Wissenschaft geschaffen, das Gilgamesch-Epos - das erste Epos der Weltgeschichte - in babylonischer Sprache auf soliden Ton geschrieben, dessen Faszination Dichter und Denker bis in die Gegenwart hinein fasziniert und inspiriert.
Es ist nicht - wie so oft behauptet - die verklärte Romantik, welche die deutsche Klassik und später Literaten wie Thomas Mann so eng mit dem Orient verband. Es ist vielmehr das weitreichende Verständnis, dass es sich hier um nichts Fremdes, sondern das Eigene handelt.
Die Faszination des Alltäglichen bewahren
Viel wurde in den letzen 150 Jahren in akribischer Detailarbeit zum Vorschein gebracht, was der alte Orient in seinem Kernland zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris - seinem fruchtbaren Schoß – über Jahrtausende hinweg beherbergte. Ein unüberschaubarer Reichtum an schriftlichen Quellen liegt uns vor, die es ermöglichen, die Anfänge und Entwicklung unserer Kultur zu verstehen.
Die Eurozentrik muss sich aus ihren Fugen lösen und durch ein ganzes, rundes Bild ersetzt werden; eines, das sich in seiner Natur der Faszination und des Wissens begründet, die menschlichen Anfänge zu schätzen und zu schützen weiß. Durch die bemerkenswerte Arbeit von Archäologen und Altorientalisten kann heute rekonstruiert werden, was sich in Vorderasien 10.000 Jahre vor Christus bis zur Ausbreitung des Islams ereignet hat.
Nebst archäologischer Feldforschung ist es auch das unermüdliche Werk von Wissenschaftlern weltweit, die sich mit der wundersamen Keilschrift beschäftigten und es uns dadurch ermöglichen in eine Welt zu blicken, aus der wir unsere täglichen Grundlagen schöpfen. Das Selbstverständnis einen Tag in 24 Stunden, eine Minute in 60 Sekunden einzuteilen, einen Kreis mit 360 Grad zu bestimmen oder den Gebrauch des Alphabets; wobei es sich hier nur um einen Bruchteil der Errungenschaften handelt, die aus dem alten Orient bis in unsere Gegenwart reichen.
Kulturgrenzen überwinden
Die Überwindung von Kulturgrenzen ist elementar für die Wahrung der Kultur. Aber es steht vermutlich außer Frage, dass das Unterfangen in der Schwierigkeit des Begriffes an sich liegt. Die moderne Definition des Kulturbegriffs unterscheidet sich wesentlich von dem kulturellen Verständnis des alten Orients.
Zu einer Zeit, in der das Kulturelle nicht Accessoire-ähnlich ergänzte, sondern eine fundamentale, eigenständige Größe verkörperte; einem Werkzeug gleichkam, das den Lauf der Dinge beeinflusste, auf einem Gebiet, das sich in seiner natürlichen Form ohne geographische Grenzen definierte.
Es ist insbesondere in diesen Tagen von enormer Wichtigkeit, sich bewusst zu machen, dass die Verwüstung und Zerstörung im Nahen Osten nicht einzig der Verlust jener ist, die dieser Tage Europa erreichen, sondern unser aller Verlust. Das die Menschen, die verzweifelt in den Flüchtlingsunterkünften ausharren, bis dato etwas bewahrt und gepflegt haben, das die Grundpfeiler unsere Kultur darstellt. Es geht nicht um die Stilisierung des Eigenen durch die Grenzziehung zum Fremden, sondern das Verständnis, dass es in diesem Sinne kein Fremdes gibt.
Sinnlose Zerstörung
Die Sinnlosigkeit der Vernichtung von Menschenleben und der Zerstörung dessen was der Mensch geschaffen hat, wird nicht zur Folge haben, dass durch diesen brutalen Akt - der sich nur über Schwäche definieren lässt - das kollektive Gedächtnis verstummt. Trotz der hohen Risiken reisen Menschenrechtsorganisationen in die syrischen und irakischen Krisengebiete und versuchen unermüdlich vor Ort Hilfe zu leisten, begeben sich Archäologenteams in die vom Terror dominierten Region, um ihre Ausgrabungen fortzusetzen und die lokale Bevölkerung beim Schutz ihres Kulturellen Erbes zu unterstützen.
Es mag sich stellenweise wie der naive Wunsch nach weltweiter Vereinigung gelesen haben, aber im Grunde handelt es sich doch nur um einen simplen Analogieschluss, nämlich dem Schutz dessen, was uns definiert.
Melanie Christina Mohr
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