Wie gefangen in der Wüste
Fast zwei Stunden sind es von Amman hierher, wo hinter Stacheldraht die Zuflucht liegt. Seit 2014 existiert das Flüchtlingslager, dem zweitgrößten nach Zatari im Norden Jordaniens, wo knapp 80.000 geflüchtete Syrer wohnen. Azraq hat sogar Platz für noch mehr, seit 2013 wird es aufgebaut und ist mit seinen wie auf Schnüren aufgereihten Blechhütten gewappnet für weitere Flüchtlingsströme aus dem vom Bürgerkrieg zerrissenen Nachbarland.
Allein in den letzten zwei Monaten ist Azraq um fast 20.000 Menschen gewachsen, fast täglich werden es mehr. Mehr Menschen, die vor Krieg, Zerstörung und Not fliehen und keinen anderen Ort haben, wo sie hingehen können.
Durch Staub und Stein
Malek Abdeen war schon hier, als noch gar keine Flüchtlinge im Camp waren. Seit gut zweieinhalb Jahren arbeitet der junge Mann in Azraq für die internationale Hilfsorganisation Care, die einen Großteil des Camp-Managements verantwortet. Wie die meisten seiner etwa 40 Kollegen pendelt Abdeen täglich aus der Hauptstadt Amman zur Arbeit hier raus – zweimal zwei Stunden durch Staub und Stein – nur um Gutes zu tun. Helfen wollen sie hier alle, etwas zum Besseren wenden, ein bisschen was bewegen.
Anders als das wohl bekannteste Flüchtlingscamp Zatari an der nördlichen Grenze von Jordanien, das direkt nach Ausbruch des Bürgerkrieges in Syrien im Frühling 2011 förmlich aus dem Boden gestampft wurde und lange vor sich hin wucherte, wurde Azraq geplant und systematisch aufgebaut. Das sieht man. Azraq scheint wie ein Vorzeigecamp.
In zwei der insgesamt vier bewohnten Districts gibt es ein sogenanntes Community Center, mit Aufenthalts- und Unterrichtsräumen, mit einem Kindergarten und Leseecken. Sogar Berufsausbildung wird angeboten. Die Näherinnen bereiten gerade eine Ausstellung ihrer neusten Kollektion vor und der provisorische Beautysalon ist vor allem an Donnerstagen übervoll, wenn angehende Kosmetikerinnen und ihre Freundinnen junge Frauen für ihre bevorstehende Hochzeit schminken. Bunt ist es hier und fröhlich gestaltet – keine Selbstverständlichkeit in der Trostlosigkeit des Wüstencamps.
Eigentlich ist das hier eher wie ein Gefängnis, sagt Agathe Simonis, die gemeinsamen mit Freiwilligen für das Goethe-Institut regelmäßig Lese- und Bastelaktivitäten für die Kinder im Camp anbietet. Nur einmal im Monat dürfen die Flüchtlinge für drei Tage das Lager verlassen.
Doch auch dann ist die nächste Stadt mehr als 20 Kilometer entfernt, Transportmöglichkeiten gibt es faktisch nicht, und so beschränkt sich der tägliche Radius auf den Weg von der eigenen Hütte zum Brunnen am Ende der Wohnzeile, zum Supermarkt in zwei Kilometer Fußmarsch oder zu dem kleinen Souk, der gerade neben der Moschee eröffnet hat.
Hoffnung auf baldige Rückkehr
Keiner weiß, wie lange die Hütten so stehen werden. Hoffentlich werden es keine Häuser, hört man bisweilen die Flüchtlinge murmeln. Denn selbstverständlich hoffen sie alle, bald wieder nach Hause gehen zu können.
Sie sind sich ähnlich, die Syrer und die Jordanier. Schon vom Dialekt, den sie im Arabischen pflegen, auch von ihrer Kultur. Trotzdem sind seit dem Ende der Kolonialzeit vor einem dreiviertel Jahrhundert zwei eigene Nationen entstanden, jede mit ihren Sitten und Gebräuchen. Obwohl gerade Syrien als vergleichsweise säkulares Land galt, sind viele der Menschen, die jetzt in den Flüchtlingslagern stranden, ausgesprochen konservativ und religiös. Männer und Frauen sind, soweit das geht, streng getrennt. Das sei am Anfang so nicht gedacht gewesen, erzählt Projektleiter Malek Abdeen, aber die Geflüchteten hätten es eingefordert.
Das ist der Grund, warum im Moment der kleine Frauenfitnessraum, wo vormittags eigentlich Zumba-Kurse und Laufbandtraining stattfinden, geschlossen ist – weil auf dem großen Sportplatz nebenan ein Fußballturnier für Männer stattfindet. Und bei jedem Angebot, erzählt Sozialarbeiterin Duaa, werde vorher abgefragt, ob das Thema Interesse findet und wie es zeitlich am besten in den Familienalltag im Camp reinpasst.
Was immer gut besucht ist, sind die Kindergartenangebote, in die Kinder praktisch ab dem ersten Lebenstag gebracht werden können. Es sei einfach nicht üblich für die Männer, sich um die Kinder zu kümmern, erzählt Sozialarbeiterin Duaa. Wenn also eine Mutter einen Arzttermin hat oder eine andere Verpflichtung und keine Verwandte oder Nachbarin, die sich um ihr Kind kümmert, kann sie es zur Betreuung bei den Freiwilligen abgeben. Mit den Größeren wird dort regelmäßig gesungen, vorgelesen, gebastelt, geschrieben und gerechnet. Es gibt ein Puppentheater, viele bunte Stühle im Kreis und kleine Leseecken.
Der Schulbesuch ist eigentlich Pflicht, wird aber nicht durchgesetzt im Camp. Immerhin haben hier alle Kinder die Chance, wenigstens ein bisschen Schulbildung zu bekommen, erzählt Agathe Simonis vom Goethe-Institut. Bei den Hunderttausenden von Flüchtlingsfamilien, die in den jordanischen Städten leben, insgesamt mehr als eine Million, die meisten davon in Amman und Irbid, müssten viele der Kinder oft irgendwo Geld verdienen, um die Familie durchzubringen. Da sei Schule oft Nebensache. Auch wenn Bildung für die meisten Eltern im Nahen Osten eigentlich ein hohes Gut ist.
Manch einer sitzt dann auch gemeinsam mit den Kindern im improvisierten Englischkurs oder leiht sich regelmäßig Bücher aus. Wenn es nach Malek Abdeen ginge, dann wäre der Raum nebenan mit den dunklen Regalen und den bunten Plastestühlen schon bald eine richtige Bibliothek. Das Goethe-Institut Amman hat versprochen, das Projekt zu unterstützen und fragt gezielt, welche Bücher gebraucht werden, in welchen Sprachen.
Creative Time mit Grüffelo, Maus & Elefant
Schon seit einem Jahr gehen die Goethe-Mitarbeiter aus Amman und zahlreiche Freiwillige – Jordanier, aber auch Syrer und Iraker, die selbst geflüchtet sind – regelmäßig in die Camps ebenso wie in Schulen und Community-Center in den großen Städten, um mit den Kindern Bücher anzuschauen und ihnen vorzulesen.
So kennt man jetzt auch in Azraq den unheimlichen Grüffelo und den sonnenbunten Regenbogenfisch. Und neuerdings auch die Maus – genau, die orangefarbene mit den Klimperaugen und ihren Freund, den kleinen blauen Elefanten. Ein Teil der legendären WDR-Vorschulserie wurde ins Arabische übersetzt und flimmert jetzt über den kleinen Laptopbildschirm in der sogenannten Creative Time. Ein Renner bei den Kindern, der leuchtende Augen garantiert und die Kleinen ungeduldig auf den nächsten Besuch von Agathe und ihrem Team warten lässt.
Denn Besuch ist selten. Das Einlassregime ist strikt. Nur wer registriert ist oder langfristig angemeldet kommt ins Camp. Sicherheit geht in Jordanien verständlicherweise über alles – schließlich ist das kleine Land auch nach seinem Selbstverständnis die einzige friedliche Insel zwischen dem ewig unruhigen Palästina, dem im Bürgerkrieg ertrunkenen Syrien und dem seit vielen Jahren instabilen Irak. Aber natürlich geht es gerade an solch einem Zaun, wie er das Lager von Azraq umgibt, auch immer um Autorität und Macht und Demonstration von beidem. Geduld hilft da und den Unmut weg zu lächeln. Immerhin sind wir hier nur zu Besuch.
Dana Ritzmann
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