Die Opfer fordern Gerechtigkeit
Ich war eine derjenigen, die seit Jahren gegen das Regime Gaddafis opponiert hatten: Seit Ende 2004 betrieb ich meine politischen Aktivitäten aus einem Internetcafé in Bengasi. Ich administrierte Webforen der libyschen Opposition und schrieb Beiträge über gewaltsame Übergriffe. Ich erlaubte jedermann den Zugriff zu diesen Foren, trotz anhaltender Warnungen seitens der Sicherheitspolizei.
Einer der Besucher des Cafés war der junge Journalist Dayf Ghazal, der Autor eines bekannten Artikels gegen das Regime Gaddafis ("Wer von uns ist der Verräter und wer der Feigling?"). Die Handlanger des Despoten ermordeten ihn – aber erst schnitten sie ihm die Finger ab.
Ich erzählte seine Geschichte auf den Internetseiten. Und ich sammelte alle Informationen, Bilder und Videoausschnitte, die auf die Tyrannei verwiesen, um diese Wahrheiten der Welt zu zeigen: so zum Beispiel die Ereignisse auf den Straßen während eines Aufstands in Bengasi im Jahr 2006 oder später in Tobruk. Jedes Mal unterdrückte Gaddafi die Proteste umgehend.
Zeitenwende am "Tag des Zorns"
Ich gehörte zu den Leuten, die mit dem Netzaktivisten Jalal Kuwafi auf der Facebook-Seite im Oktober 2010 zum "Tag des Zorns" aufriefen. Die sozialen Netzwerke eröffneten neue Möglichkeiten und halfen, die Revolutionen in Tunesien, Ägypten und Libyen auszulösen.
Alle Interessierten beobachteten die Ereignisse jener Tage genau und brannten darauf, etwas zu unternehmen. Facebook spielte schon lange vor den Aufständen die entscheidende Rolle bei der Vernetzung der Akteure. Doch wir stützten uns nicht nur auf die Facebook-Seiten, sondern verteilten auch Flugblätter und riefen zu Demonstrationen am "Tag des Zorns" auf.
Ich stand unter großem Druck, da ich an der Universität Garyounis in Bengasi arbeitete. Die Sicherheitsapparate Gaddafis kontrollierten diese staatliche Hochschule vollständig, so dass man nicht mehr von einer Institution der Lehre sprechen konnte.
So wurden zahlreiche Studenten auf dem Uni-Campus hingerichtet, weil sie angeblich gegen das Gaddafi-Regime opponiert haben sollen. Ihre Kommilitonen wurden gezwungen, diesen Morden zuzuschauen. Währenddessen skandierten die Gefolgsleute Gaddafis: "Dies ist die Strafe für alle, die die Führung Gaddafis oder die Revolution des 1. Septembers nicht respektieren!"
Beamtinnen der Geheimpolizei arbeiteten in Zivil an der Universität und horchten Angestellte aus. Ich selbst wurde mehrfach inhaftiert. Die kürzeste Haftzeit waren sieben Tage, die längste drei Monate. Ich wurde wiederholt und fast ständig inhaftiert. Außerdem musste ich mich jeden Samstag bei der regionalen Sicherheitsverwaltung in Bengasi melden. Ich durfte die Stadt nicht verlassen.
Das Volk sehnt sich nach Gerechtigkeit
Demokratie und Rechtssicherheit gehören zusammen. Die Verbrechen des Gaddafi-Regimes müssen untersucht werden. Derzeit hat die Justiz in Libyen keine Rechtsgrundlage. Die Verfolgten der Diktatur können bisher keine Anklagen gegen ihre Folterer erheben, von denen viele nach dem Sturz Gaddafis aus Angst vor Racheaktionen ihrer Opfer außer Landes flohen.
Der libysche Übergangsrat forderte zwar die Auslieferung der Gesuchten von den Staaten, in denen die Verbrecher Zuflucht fanden – aber ohne dabei ernsthaft Druck auszuüben.
Immerhin erreichte dessen Exekutive unter Abdel Rahim al-Kib in Verhandlungen mit Tunesien die Auslieferung von Mahmudi al-Baghdadi – zur großen Zufriedenheit der libyschen Öffentlichkeit. Mahmudi al-Baghdadi war einer der Minister Gaddafis, die Befehle zum Töten und Foltern während der libyschen Revolution gegeben hatten. Zudem war er mutmaßlich auch in die Veruntreuung öffentlicher Gelder verstrickt.
Gefangen in der "Arabischen Bastille"
Auch gegen Gaddafis ehemaligen Geheimdienstchef Abdallah al-Senussi, der im März 2012 in Mauretanien festgenommen werden konnte und Anfang September an Libyen ausgeliefert wurde, ist bis heute kein gerichtliches Verfahren eröffnet worden.
Al-Senussi war mitverantwortlich dafür, dass im Juni 1996 während einer Revolte innerhalb einer halben Stunde 1.200 Gefangene im Gefängnis Abu Salim ermordet wurden. Dieses Hochsicherheitsgefängnis bei Tripolis bezeichnen die Libyer als die "Arabische Bastille". Viele politische Gefangene wurden dort inhaftiert und auch hingerichtet.
Von den gesuchten Schergen Gaddafis sind bis jetzt also weder die Geflohenen festgenommen, noch die bereits Inhaftierten vor ein Gericht gestellt worden. Natürlich erregt dies Zorn und sorgt für ständigen Zündstoff in der Öffentlichkeit.
Die Menschen sind unzufrieden mit der bisherigen Leistung der Regierung. Gaddafis Opfer bestehen auf der Bestrafung der Verbrecher. Die Schuldigen sollten nicht freigesprochen, sondern zur Rechenschaft gezogen werden. Das Volk sehnt sich nach Gerechtigkeit, aber die politische Führung in Tripolis hat es bislang versäumt, die Verbrechen der Diktatur zu ahnden und aufzuarbeiten.
Abschied vom Schrecken der Vergangenheit
Dieser Zustand der Straflosigkeit führt dazu, dass manche Leute offen sagen, dass sie sich eigenständig rächen werden, falls es keine Strafverfolgung der Täter und keine Gerechtigkeit geben sollte. Die Beschuldigten müssen festgenommen und in Sicherheitsverwahrung gehalten werden, bis die notwendigen juristischen Körperschaften aufgestellt sind. Nur durch Wahrheit kann endlich Gerechtigkeit in der Gesellschaft herrschen.
Die Bürger sollten das Gefühl haben, dass nun eine Phase der Verwirklichung ihrer Rechte begonnen hat, damit sie sich an die Justiz wenden, anstatt individuelle Lösungen zu suchen. Denn nur so kann man sich vom Schreckensbild der Vergangenheit lösen. Das libysche Volk ist darauf bedacht, nicht zu vergessen und sein Recht einzufordern. Das ist klar ersichtlich, wenn man die Facebook-Seiten und Reaktionen der Bürger auf dieses Thema durchstöbert. Die libysche Justiz ist bis jetzt in all ihren Zuständigkeiten gelähmt.
In den 1970er und 1980er Jahren gehörte es zu Gaddafis innenpolitischem System, politisch aktive Intellektuelle, die eine Gefahr für seine Herrschaft darstellten, zu ermorden oder zur Auswanderung zu zwingen. Lange Jahre der Gewaltherrschaft haben jedoch in die Seelen der Menschen einen Drang zur zerstörerischen Rache gepflanzt.
Wenn die Regierung den momentanen Zustand der Straffreiheit nicht beendet, wird es zum Bruderkampf zwischen den Libyern kommen. Nach meiner persönlichen Meinung müssen sich alle Bürger dem Aufbau Libyens und der Konzentration auf die kommende Generation zuwenden und in deren Innerstes all das legen, was zum Wohle Libyens gereicht.
Dies wird jedoch nur dann gelingen, wenn die Libyer ihr Recht auf zivilisierte Weise einfordern, fern der persönlichen Rache. Ich persönlich insistiere darauf, dass man denjenigen den Prozess macht, die mich damals inhaftierten und misshandelten.
Ich werde keine Zuflucht zur Selbstjustiz nehmen, denn ich vertraue darauf, dass die Justiz eines demokratischen Libyens mir Recht verschaffen wird, ohne dass ich mir die Hände beschmutzen muss. Doch sollte die internationale Gemeinschaft Libyen bei dieser schwierigen Vergangenheitsbewältigung mit Rat zur Seite stehen.
Hadija Ramadan al-Amami
© Zeitschrift für Entwicklung und Zusammenarbeit
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
Hadija Ramadan al-Amami ist Journalistin und politische Aktivistin. Sie studierte Politikwissenschaften, Informatik und Musik und arbeitet beim Fernsehen in Bengasi.